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»Es ist der schönste und hübscheste Ort, den ich je gesehen oder mir vorgestellt habe«, sagte Anne entzückt. »Er könnte aus einem Märchenbuch oder einem Traum sein.«

Das Haus hatte tief herabgezogene Dachrinnen und war aus unbehauenen roten Sandsteinblöcken gebaut, wie es sie auf der Insel gab. Es hatte ein kleines spitzes Dach mit zwei großen Schornsteinen und zwei Giebelfenster mit kunstvoll gearbeiteten hölzernen Hauben darüber. Das ganze Haus war mit üppig wachsendem Efeu bedeckt, der an dem rauen Mauerwerk guten Halt fand und sich bei Herbstfrösten in die wunderschönsten bronzenen und weinroten Farbtöne verfärbte.

Vor dem Haus war ein rechteckiger Garten, in dem vom Weg her ein Tor führte, an dem die Mädchen standen. An der einen Seite wurde der Garten vom Haus begrenzt. An den drei anderen Seiten wurde er von einer alten Steinmauer eingefasst, die so mit Moos, Gras und Farn überwuchert war, dass sie aussah wie ein hoher grüner Wall. Rechts und links vom Haus standen mächtige dunkle Fichten und breiteten ihre palmenähnlichen Zweige darüber. Unterhalb davon waren kleine Wiesen übersät mit grünem Klee, die schräg abfielen zum blau sich dahinschlängelnden Fluss. Weit und breit war kein anderes Haus oder eine Lichtung zu sehen — soweit das Auge reichte, nichts als Hügel und Täler mit jungen Tannen.

»Was Miss Lewis wohl für ein Mensch ist?«, überlegte Diana, als sie das Gartentor öffnete. »Man hält sie ja für sonderbar.«

»Dann ist sie interessant«, sagte Anne entschieden. »Sonderlinge sind zumindest interessant, was immer sie sonst sind oder nicht sind. Habe ich dir nicht gleich gesagt, wir kämen an einen verzauberten Ort? Ich wusste, dass die Feen nicht umsonst den Weg verzaubert haben.«

»Aber Miss Lavendar Lewis ist wohl kaum eine verzauberte Prinzessin«, lachte Diana. »Sie ist eine alte Jungfer. Sie ist fünfundvierzigjahre alt und schon ziemlich grau, hat man mir erzählt.«

»Das ist nur ein Teil des Zaubers«, erklärte Anne überzeugt. »Im Herzen ist sie jung geblieben und noch schön. Wenn wir nur wüssten, wie man den Zauber löst, dann würde sie wieder strahlend und hübsch sein. Aber wir wissen es nicht - das weiß einzig und allein der Prinz. Und Miss Lavendars Prinz ist noch nicht gekommen. Vielleicht ist ihm ein verhängnisvolles Unglück zugestoßen - obwohl das gegen alle Regeln eines Märchens wäre.«

»Ich fürchte, er kam einmal vor langer Zeit und ging wieder«, sagte Diana. »Man sagt, sie wäre in jungen Jahren mit Stephen Irving, Pauls Vater, verlobt gewesen. Aber sie haben sich zerstritten und sich getrennt.«

»Pssst«, wies Anne sie an. »Die Tür ist offen.«

Die Mädchen blieben auf der Veranda unter den Efeuranken stehen und klopften an die offene Tür. Im Haus waren Schritte zu hören. Eine ziemlich merkwürdige kleine Gestalt kam zum Vorschein — ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren mit Sommersprossen, einer Stupsnase, einem großen Mund, der wirklich aussah, als reichte er »von einem Ohr zum anderen«, und zwei langen blonden Zöpfen mit zwei riesigen blauen Schleifen.

»Ist Miss Lewis zu Hause?«, fragte Diana.

»Ja, meine Damen. Kommen Sie herein, meine Damen . . . hier entlang ... nehmen Sie doch Platz, meine Damen. Ich sage Miss Lavendar Bescheid, dass Sie da sind, meine Damen. Sie ist oben, meine Damen.«

Damit huschte die Kleine hinaus. Die beiden allein gelassenen Mädchen sahen sich entzückt um. Das wundervolle Haus war innen genauso interessant wie außen.

Das Zimmer hatte eine niedrige Decke und zwei viereckige Fenster mit kleinen Scheiben und Gardinen mit Musselinrüschen. Die Möbel waren altmodisch, aber so fein gearbeitet, dass sie wunderschön wirkten. Ehrlicherweise muss jedoch zugegeben werden, dass die zwei gesunden Mädchen, die soeben vier Meilen durch die Herbstluft gewandert waren, am meisten ein Tisch anzog, der mit blauem Porzellan gedeckt und überladen war mit Köstlichkeiten. Kleine goldfarbene Farnblätter auf dem Tischtuch verliehen dem Ganzen, wie Anne es genannt hätte, »ein festliches Aussehen«.

»Miss Lavendar erwartet wohl Besuch zum Tee«, flüsterte sie. »Da ist für sechs Personen gedeckt. Was für ein lustiges Dienstmädchen sie hat. Sie hat ausgesehen wie ein Botschafterin aus dem Land der Feen. Sie hätte uns bestimmt den Weg erklären können, aber ich war gespannt auf Miss Lavendar. Sch .. . Seht... sie kommt.«

Da stand Miss Lavendar Lewis auch schon in der Tür. Die Mädchen waren so überrascht, dass sie alle ihre guten Manieren vergaßen und sie nur anstarrten. Unbewusst hatten sie aus alter Erfahrung die übliche Sorte alter Jungfer erwartet — eine ziemlich eckige Gestalt mit ordentlich gekämmten grauen Haaren und einer Brille. Eine dem unähnlichere Person als Miss Lavendar hätte man sich nicht vorstellen können.

Sie war klein und hatte schneeweißes, schön gewelltes dickes Haar, das sorgfältig zu weichem Haarrollen frisiert war. Sie hatte ein fast mädchenhaftes Gesicht, rote Wangen, schön geformte Lippen, große sanfte braune Augen und Grübchen - tatsächlich Grübchen. Sie trug ein sehr elegantes Kleid aus cremefarbenem Musselin mit hellen Rosen darauf - ein Kleid, das an den meisten Frauen ihres Alters lachhaft jugendlich gewirkt hätte, das aber Miss Lavendar so gut stand, dass einem der Gedanke gar nicht erst kam.

»Charlotta die Vierte sagt, dass Sie mich zu sprechen wünschen«, sagte sie mit einer Stimme, die zu ihrem Äußeren passte.

»Wir wollten uns nach dem Weg nach West Grafton erkundigen«, sagte Diana. »Wir sind bei den Kimballs zum Tee eingeladen. Wir haben im Wald den falschen Weg genommen und sind an der Middle-Grafton-Straße herausgekommen statt an der West-Grafton-Straße. Müssen wir am Tor an der Straße nach links oder nach rechts abbiegen?«

»Nach links«, sagte Miss Lavendar mit einem unschlüssigen Blick auf den Teetisch. Dann rief sie, als hätte sie plötzlich einen Entschluss gefasst: »Ach, wollen Sie nicht bei mir zum Tee bleiben? Bitte. Die Kimballs werden längst mit dem Tee fertig sein, bis Sie dort eintreffen. Charlotta die Vierte und ich würden uns schrecklich freuen, wenn Sie bleiben würden.«

Diana sah Anne stumm und fragend an.

»Wir bleiben gern«, sagte Anne sofort, denn sie hatte beschlossen, dass sie mehr über Miss Lavendar wissen wollte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Aber Sie erwarten Gäste, nicht wahr?«

Miss Lavendar sah erneut zum Teetisch und wurde rot.

»Sie werden mich sicher für schrecklich albern halten«, sagte sie. »Es ist albern und ich schäme mich, wenn man dahinterkommt. Ich erwarte niemanden, ich habe nur so getan als ob. Verstehen Sie, ich war so allein. Ich habe gern Gesellschaft - das heißt angenehme Gesellschaft. Es verschlägt nur selten einmal jemanden hierher, weil das Haus so weit ab vom Weg liegt. Charlotta die Vierte fühlte sich auch einsam. Also habe ich so getan, als gäbe ich eine Party. Ich habe gekocht, den Tisch geschmückt, ihn mit dem Hochzeitsgeschirr meiner Mutter gedeckt und mich fein gemacht.«

Diana hielt Miss Lavendar insgeheim für so sonderbar, wie sie es sich den Gerüchten nach ausgemalt hatte. Eine Frau von fünfundvierzig Jahren, die sich damit die Zeit vertrieb, so zu tun, als erwarte sie Besuch! Wie ein kleines Mädchen! Aber Anne strahlte und rief erfreut: »Oh, Sie stellen sich auch Sachen vor?«

Das »auch« verriet Miss Lavendar die verwandte Seele.

»Ja«, gab sie beherzt zu. »Natürlich ist es für eine alte Frau wie mich albern. Aber was tut es zur Sache, wenn man schon eine ungebundene alte Jungfer ist, nach Lust und Laune verrückte Dinge zu tun, wo es sowieso niemandem schadet? Der Mensch braucht seinen Ausgleich. Manchmal könnte ich ohne das gar nicht leben, glaube ich. Aber ich werde nur selten dabei ertappt und Charlotta die Vierte verrät es nicht. Aber jetzt freue ich mich, dass ich ertappt wurde, denn Sie sind wirklich und wahrhaftig da. Der Tee ist schon fertig. Seien Sie so nett und gehen Sie ins Wohnzimmer und legen Sie Ihre Hüte ab. Dahinten durch die weiße Tür oben an der Treppe. Ich muss schnell in die Küche und schauen, dass Charlotta die Vierte nicht den Tee kochen lässt. Charlotta die Vierte ist ein liebes Mädchen, aber immer lässt sie den Tee kochen.«