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Miss Lavendar verschwand in die Küche. Die Mädchen fanden den Weg zur Garderobe allein, ein Raum, genauso weiß wie die Tür, in den durch ein efeuverhangenes Giebelfenster Licht fiel und der aussah, so sagte Anne, wie ein Ort, an dem schöne Träume wachsen. »Das ist ein regelrechtes Abenteuer, nicht wahr?«, sagte Diana. »Ist Miss Lavendar nicht süß, auch wenn sie sonderbar ist? Sie sieht überhaupt nicht wie eine alte Jungfer aus.«

»Sie sieht aus wie Musik, finde ich«, antwortete Anne.

Als sie nach unten gingen, brachte Miss Lavendar die Teekanne herein. Ihr folgte, hocherfreut, Charlotta die Vierte mit einem Teller voll heißer Krapfen.

»So, nun müssen Sie mir sagen, wie Sie heißen«, sagte Miss Lavendar. »Wie schön, dass Sie jung sind. Ich mag junge Mädchen, ln Gesellschaftjunger Mädchen fällt es mir leicht, so zu tun, als wäre ich selbst auch ein junges Mädchen. Ich hasse die Vorstellung«, sie verzog ein wenig das Gesicht, »ich sei alt. Also, wie heißen Sie? Diana Barry? Und Anne Shirley? Darf ich so tun, als würde ich Sie schon eine Ewigkeit kennen und Sie einfach Anne und Diana nennen?«

»Ja«, sagten beide wie aus einem Munde.

»Dann machen wir es uns doch bequem und essen«, sagte Miss Lavendar glücklich. »Charlotta, du setzt dich ans Tischende und bedienst die Mädchen. Was für ein Glück - ich habe den Biskuitkuchen und die Krapfen gebacken! Wie albern, sie für eingebildete Gäste zu backen - Charlotta die Vierte hat das gedacht, nicht wahr, Charlotta? Aber du siehst, wie gut es war. Natürlich wäre das nicht vergeudet gewesen, denn Charlotta die Vierte und ich hätten die Krapfen in den nächsten Tagen schon aufgegessen. Aber Biskuitkuchen schmeckt frisch am besten.«

Es war ein fröhliches und denkwürdiges Beisammensein. Als sie fertig gegessen hatten, gingen sie hinaus und setzten sich im Zauber des Sonnenuntergangs in den Garten.

»Sie haben es wunderschön hier«, sagte Diana und schaute sich voller Bewunderung um.

»Warum nennen Sie das Haus Echo Lodge?«, fragte Anne. »Charlotta«, sagte Miss Lavendar, »hole das kleine Zinnhorn, das über dem Bord mit der Uhr hängt.«

Charlotta lief ins Haus und kam mit dem Horn wieder.

»Blase hinein, Charlotta«, befahl Miss Lavendar.

Charlotta blies hinein. Ein ziemlich rauer, schriller Ton erklang. Einen Augenblick lang war Stille - dann schallte vom Wald jenseits des Flusses ein vielfaches zauberhaftes Echo herüber, lieblich, schwer bestimmbar, silberhell, so als bliesen alle »Hörner aus dem Land der Feen« in den Abendhimmel. Anne und Diana riefen voll Wonne: »Jetzt lach, Charlotta, lach laut!«

Charlotta, die vermutlich auch gehorcht hätte, wenn Miss Lavendar ihr befohlen hätte, einen Kopfstand zu machen, kletterte auf die Steinbank und lachte laut und herzhaft. Das Echo hallte wider, als ahmte eine Schar von Feen ihr Lachen in dem rötlichen Wald und in den Tannen nach.

»Die Leute bewundern mein Echo immer sehr«, sagte Miss Lavendar, so als gehörte ihr das Echo. »Mir selbst gefällt es auch. Es leistet mir Gesellschaft - mit ein wenig Phantasie. An ruhigen Abenden sitzen Charlotta die Vierte und ich oft hier draußen und vertreiben uns damit die Zeit. Charlotta, nimm das Horn und hänge es vorsichtig wieder an seinen Platz.«

»Warum nennen Sie sie Charlotta die Vierte?«, fragte Diana, die wegen des Namens vor Neugierde fast platzte.

»Nur damit ich sie nicht mit den anderen Charlottas verwechsle«, sagte Miss Lavendar ernst. »Sie sehen sich alle so ähnlich, dass man sie gar nicht auseinander halten kann. Eigentlich heißt sie gar nicht Charlotta. Sie heißt, wartet mal, wie heißt sie doch? Ich glaube Leonora, ja, Leonora. Wisst ihr, das kam so. Als vor zehn Jahren meine Mutter starb, konnte ich nicht allein hier wohnen bleiben. Aber ich hatte nicht das Geld, um ein erwachsenes Dienstmädchen zu bezahlen. Also kam die kleine Charlotta Bowman gegen Kost und Logis zu mir. Sie hieß wirklich Charlotta - sie war Charlotta die Erste. Sie war gerade dreizehn Jahre alt und blieb bei mir, bis sie sechzehn wurde. Dann ging sie nach Boston, weil sie dort mehr verdienen konnte. Danach kam ihre Schwester zu mir. Sie hießjulietta - Mrs Bowman hatte wohl eine Schwäche für phantasievolle Namen. Aber sie sah genauso aus wie Charlotta, sodass ich sie immer Charlotta nannte. Ihr machte das nichts aus. Ich gab es auf, mich an ihren richtigen Namen zu erinnern. Sie war Charlotta die Zweite. Nach ihr kam Evelina. Sie war Charlotta die Dritte. Jetzt ist Charlotta die Vierte bei mir. Aber mit siebzehn - jetzt ist sie vierzehn - will sie auch nach Boston gehen, und was ich dann tue, das weiß ich wirklich nicht. Charlotta die Vierte ist die jüngste von den Bowman-Mädchen und die beste. Die anderen Charlottas haben es mich immer spüren lassen, wie albern sie es fanden, wenn ich so tat als ob. Charlotta die Vierte tut das nie, was auch immer sie insgeheim davon halten mag. Mich kümmert es nicht, was die Leute über mich denken, solange sie es mich nicht spüren lassen.«

»Nun«, sagte Diana und sah voll Bedauern in die untergehende Sonne, »wir müssen aufbrechen, wenn wir noch vor Anbruch der Dunkelheit bei den Kimballs sein wollen.«

»Wollt ihr mich nicht wieder mal besuchen kommen?«, bat Miss Lavendar.

Anne, groß gewachsen wie sie war, legte den Arm um die kleine Frau. »Das tun wir ganz bestimmt«, versprach sie. »Jetzt, wo wir Sie ausfindig gemacht haben, werden wir das nächste Mal länger bleiben. Ja, wir müssen gehen -, >wir müssen uns losreißen<, wie Paul Irving immer sagt, wenn er nach Green Gables kommt.«

»Paul Irving?«, Miss Lavendars Stimme klang leicht verändert. »Wer ist das? Ich dachte, in Avonlea gäbe es niemand mit diesem Namen.« Anne ärgerte sich über ihre Unbesonnenheit. Sie hatte Miss Lavendars frühere Romanze völlig vergessen, als ihr Pauls Name herausrutschte.

»Er ist ein Schüler von mir«, erklärte sie behutsam. »Er kam letztes Jahr aus Boston hierher und wohnt bei seiner Großmutter, bei Mrs Irving an der Uferstraße.«

»Ist er Stephen Irvings Sohn?«, fragte Miss Lavendar und beugte sich über den Lavendel, sodass ihr Gesicht verborgen war.

»Ja.«

»Ich gebe euch beiden einen Strauß Lavendel mit«, sagte Miss Lavendar strahlend, als hätte sie die Antwort auf ihre Frage nicht gehört. »Er ist schön, findet ihr nicht? Meine Mutter mochte ihn immer sehr. Sie hat diese Randbeete vor langer Zeit angepflanzt. Mein Vater hat mir deshalb auch den Namen Lavendar gegeben. Er hat meine Mutter kennen gelernt, als er sie und ihren Bruder zu Hause in East Grafton besuchte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie haben ihn die Nacht über im Gästezimmer einquartiert. Die Betttücher dufteten nach Lavendel. Er hat die ganze Nacht wach gelegen und an meine Mutter gedacht. Seither mochte er Lavendel — und deshalb hat er mir auch den Namen gegeben. Vergesst nicht, mich bald einmal wieder zu besuchen, Mädchen. Wir erwarten euch, Charlotta die Vierte und ich.«

Sie öffnete das Tor unter den Tannen und ließ sie hinaus. Plötzlich sah sie alt und müde aus. Das Glühen und Strahlen war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihr Abschiedslächeln war so unverändert jugendlich süß wie eh und je, aber als die Mädchen an der ersten Wegbiegung einen Blick zurückwarfen, sahen sie sie auf der alten Steinbank unter der Silberpappel mitten im Garten sitzen, den Kopf müde auf die Hand gestützt.

»Sie sieht einsam aus«, sagte Diana. »Wir müssen sie oft besuchen.«