»Ihre Eltern haben ihr den einzig richtigen Namen gegeben«, sagte Anne. »Wären sie so dumm gewesen und hätten sie Elizabeth oder Nellie oder Muriel genannt, sie müsste trotzdem Lavendar heißen. Der Name erinnert an süßen Duft, Schnörkel und >Seidenkleider<. Mein Name dagegen klingt nach Brot und Butter, Flickendecke und täglicher Hausarbeit.«
»Das finde ich nicht«, sagte Diana. »Anne klingt richtig vornehm und nach Königin. Aber mir würde auch Kerrenhappuch gefallen, falls du zufällig so hießest. Die Leute machen ihre Namen schön oder hässlich, je nachdem wie sie selbst sind. Ich kann die Namen Josie und Gertie nicht mehr ausstehen. Bevor ich die Pye-Mädchen kennen lernte, fand ich es richtig schöne Namen.«
»Das ist eine wundervolle Idee, Diana«, sagte Anne begeistert. »So zu leben, dass man den Namen verschönt, auch wenn er eigentlich nicht schön ist... ihn in den Köpfen der Leute zu etwas Schönem und Angenehmen zu machen, sodass sie über den Namen an sich gar nicht mehr nachdenken. Danke, Diana.«
22 - Dieses und jenes
»Ihr wart also zum Tee im Steinhaus bei Miss Lavendar Lewis?«, sagte Marilla am nächsten Morgen beim Frühstück. »Wie sieht sie denn aus? Es ist über fünfzehn Jahre her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe. Es war an einem Sonntag in der Kirche in Grafton. Sie hat sich bestimmt sehr verändert. Davy Keith, wenn du etwas möchtest und nicht heranreichst, bitte darum, dass man es dir gibt, und lange nicht einfach so über den Tisch. Hast du das je bei Paul Irving gesehen, wenn er zum Essen hier war?«
»Aber Paul hat längere Arme als ich«, brummte Davy. »Seine hatten schon elf Jahre Zeit zu wachsen, meine erst sieben. Außerdem hab ich ja gefragt, aber Anne und du wart so ins Gespräch vertieft, dass ihr nicht zugehört habt. Überhaupt war Paul noch nie zum Essen hier, nur zum Tee, und beim Tee höflich zu sein ist leichter als beim Frühstück höflich zu sein. Du bist ja nicht halb so hungrig wie ich. Zwischen Abendessen und Frühstück liegt immer schrecklich viel Zeit. Hm, Anne, der Löffel voll ist nicht größer als letztes Jahr, aber ich bin ganz viel größer geworden.«
»Bestimmt, aber ich weiß ja nicht, wie Miss Lavendar früher ausgesehen hat. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich nicht viel verändert hat«, sagte Anne, nachdem sie Davy, nur um ihn zufrieden zu stellen, zwei Löffel voll Ahornsirup gegeben hatte. »Sie hat schneeweißes Haar, aber ein junges, mädchenhaftes Gesicht und die hübschesten braunen Augen - in so einem schönen Braunton mit einem leichten goldenen Glitzern. Und ihre Stimme erinnert einen an weißen Satin, klares Wasser und Zauberglocken zugleich.«
»Als Mädchen war sie eine große Schönheit«, sagte Marilla. »Ich habe sie nicht sonderlich gut gekannt, aber soweit ich sie kannte, mochte ich sie. Manche hielten sie auch damals schon für sonderbar. Davy, wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dann bekommst du erst zu essen, wenn alle anderen fertig sind.«
Die meisten Unterhaltungen in Gegenwart der Zwillinge wurden von solchen Verweisen gegen Davy unterbrochen. In diesem Fall, das muss bedauerlicherweise gesagt werden, hatte Davy sein Problem, die letzten Tropfen seines Sirups nicht mit dem Löffel auslöffeln zu können, gelöst, indem er seinen Teller in beide Hände genommen und ihn mit seiner kleinen roten Zunge abgeleckt hatte. Anne sah ihn so entsetzt an, dass der kleine Übeltäter rot wurde und halb beschämt, halb trotzig sagte: »So wird nichts vergeudet.«
»Leute, die anders sind, hält man für merkwürdig«, sagte Anne. »Miss Lavendar ist zweifellos anders, obwohl nur schwer zu sagen ist, worin ihre Andersartigkeit besteht. Vielleicht weil sie zu den Menschen gehört, die nicht älter werden.«
»Alle werden älter«, erklärte Marilla ziemlich harsch. »Wenn es nicht so wäre, gehörte man auch nirgends dazu. So wie ich es sehe, hat sich Lavendar Lewis von allem zurückgezogen. Sie wohnt schon so lange in diesem gottverlassenen Haus, dass alle Welt sie vergessen hat. Das Steinhaus gehört zu den ältesten Häusern auf der Insel. Der alte Mr Lewis hat es vor achtzig Jahren gebaut, als er aus England kam. Davy, hör auf, Dora am Ellenbogen zu stupsen. Ich habe es genau gesehen! Du brauchst gar nicht so unschuldig dreinzusehen. Was ist bloß heute mit dir los, dass du dich so aufführst? Ich frage mich schon all die Jahre, was zwischen Stephen Irving und Lavendar Lewis schief gelaufen ist«, fuhr Marilla fort und beachtete Davy nicht weiter. »Vor fünfundzwanzig Jahren waren sie verlobt und plötzlich war Schluss. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber es muss etwas Schlimmes gewesen sein, denn er ging in die Staaten und ist seither nicht einmal wieder zu Hause gewesen.«
»Vielleicht war es nichts wirklich Schlimmes. Ich glaube, die kleinen Dinge im Leben machen einem manchmal mehr Ärger als die großen«, sagte Anne in einem ihrer Anflüge plötzlicher Erkenntnis, die auch Erfahrung nicht hätte erschüttern können. »Marilla, bitte, erzähle Mrs Lynde nichts von meinem Besuch bei Miss Lavendar. Sie würde garantiert tausend Fragen stellen. Es wäre mir nicht recht -Miss Lavendar auch nicht, wenn sie es erführe, da bin ich mir sicher.«
»Rachel würde platzen vor Neugier«, stimmte Marilla zu. »Obwohl sie nicht mehr so viel Zeit hat wie früher, ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Sie ist ans Haus gefesselt wegen Thomas. Sie ist ganz niedergeschlagen, weil sie allmählich alle Hoffnung aufgegeben hat, dass es ihm je noch einmal besser geht. Rachel säße ziemlich allein da, wenn ihm etwas zustieße, wo alle ihre Kinder fortgezogen sind, bis auf Eliza in der Stadt. Und die hasst ihren Mann.« Marilla betrieb in diesem Punkt üble Nachrede, denn Eliza hatte ihren Mann sehr gern.
»Rachel meint, wenn er nur den Kopf nicht hängen ließe und seine ganze Willenskraft aufböte, dann würde es mit ihm schon bergauf gehen. Aber wozu einem Waschlappen sagen, er solle die Ohren steifhalten?«, fuhr Marilla fort. »Thomas Lynde hat nie Willenskraft besessen. Seine Mutter führte das Regiment, bis er heiratete. Dann gab Rachel den Ton an. Es grenzt an ein Wunder, dass er sich überhaupt getraut hat, krank zu werden, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Aber, na ja, ich sollte nicht so daherreden. Rachel war ihm eine gute Frau. Ohne sie hätte er es zu rein gar nichts gebracht, das steht fest. Er ist ein geborener Pantoffelheld. Man kann von Glück sagen, dass er einer klugen, tüchtigen Frau wie Rachel in die Hände gefallen ist. Ihre Art lag ihm. Er ersparte sich damit den Ärger, je selbst einmal eine Entscheidung treffen zu müssen. Davy, hör auf, dich wie ein Aal zu winden.«
»Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll«, wandte Davy ein. »Hunger hab ich keinen mehr und dir und Anne beim Essen zuzusehen, macht keinen Spaß.«
»Na los, ihr zwei, ab nach draußen mit euch! Füttert die Hühner«, sagte Marilla. »Und versuch nicht wieder dem weißen Hahn Federn aus dem Schwanz zu rupfen!«
»Ich brauche ein paar für einen Indianerfederschmuck«, sagte Davy düster. »Milty Boulter hat einen tollen aus den Federn, die seine Mutter ihm gegeben hat, als sie den alten weißen Truthahn geschlachtet hat. Ein paar könnte ich doch ausrupfen. Der Hahn hat sowieso viel zu viele, mehr als er braucht.«
»Du kannst den alten Feder-Staubwedel vom Speicher haben«, sagte Anne. »Ich färbe dir die Federn grün, rot und gelb.«
»Du verwöhnst den Jungen viel zu sehr«, sagte Marilla, als Davy mit strahlendem Gesicht Dora brav nach draußen gefolgt war. Marillas Erziehung hatte in den vergangenen sechs Jahren große Fortschritte gemacht. Aber sie hatte sich noch immer nicht von der Vorstellung freimachen können, es schade einem Kind, wenn man ihm in zu vielen Wünschen nachgab.
»Alle Jungen in seiner Klasse haben einen Indianerfederschmuck. Davy möchte auch einen«, sagte Anne. »Ich weiß, wie man sich da fühlt — ich würde nie vergessen, wie sehnlichst ich mir Puffärmel wünschte, als alle anderen Mädchen Kleider mit Puffärmeln hatten. Davy ist nicht verwöhnt. Er macht von Tag zu Tag Fortschritte. Bedenke nur einmal, wie er sich herausgemacht hat, seit er vor einem Jahr hierher kam.«