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»Seit er zur Schule geht, heckt er längst nicht mehr so viel aus«, gab Marilla zu. »Er tobt sich bestimmt an den anderen Jungen aus. Aber ich frage mich langsam, warum wir nichts mehr von Richard Keith gehört haben. Seit dem letzten Mai - kein Wort mehr.«

»Ich hätte Angst davor«, seufzte Anne und begann den Tisch abzuräumen. »Falls ein Brief kommen sollte, hätte ich Angst, Richard Keith würde die Zwillinge wollen.«

Einen Monat später kam tatsächlich ein Brief. Aber er stammte nicht von Richard Keith. Einer seiner Freunde schrieb, dass Richard Keith vierzehn Tage zuvor gestorben sei. Der Verfasser des Briefes war der Testamentsvollstrecker. Laut Testament wurden zweitausend Dollar Miss Marilla Cuthbert für David und Dora Keith zu treuen Händen übergeben, bis die Kinder das entsprechende Alter erreichten oder heirateten. Bis dahin sollte das Geld für ihren Unterhalt aufgewendet werden.

»Es ist doch schrecklich, dass man sich über etwas freut, wo erst einer sterben muss«, sagte Anne traurig. »Es tut mir Leid um Mr Keith, aber ich bin froh, dass wir die Zwillinge behalten.«

»Das Geld kommt uns schon sehr gelegen«, sagte Marilla vernünftig. »Ich wollte sie auch gern behalten, aber ich wusste wirklich nicht, wie ich dafür das Geld aufbringen sollte, vor allem wenn sie größer werden. Die Pacht für die Farm reicht gerade für den Haushalt und ich musste mich verpflichten, nicht einen Cent von deinem Geld für sie auszugeben. Du tust ohnehin schon viel zu viel für sie. Dora braucht diesen neuen Hut, den du ihr gekauft hast, so wenig wie eine Katze zwei Schwänze. Aber jetzt ist alles geklärt, jetzt ist für sie vorgesorgt.«

Davy und Dora waren begeistert, als sie hörten, dass sie »für immer« auf Green Gables bleiben durften. Der Tod eines Onkels, den sie nie gesehen hatten, berührte sie nicht. Aber Dora hatte eine Befürchtung.

»Wurde Onkel Richard begraben?«, flüsterte sie Anne zu.

»Ja, mein Schatz, natürlich.«

»Er ... er... ist aber nicht wie Mirabel Cottons Onkel, nicht wahr?«, flüsterte sie noch beunruhigter. »Er schleicht doch nicht um anderer Leute Haus, nachdem er beerdigt wurde, nicht wahr, Anne?«

23 - Miss Lavendars Romanze

»Ich werde heute Abend einen Spaziergang nach Echo Lodge machen«, sagte Anne an einem Freitag Nachmittag im Dezember.

»Es sieht nach Schnee aus«, sagte Marilla zweifelnd.

»Ich werde da sein, bevor es zu schneien anfängt. Ich will die Nacht über dort bleiben. Diana kann nicht mitkommen, sie hat Besuch. Miss Lavendar erwartet mich bestimmt heute. Es ist schon zwei Wochen her, seit ich das letzte Mal dort war.«

Anne hatte seit jenem Tag im Oktober viele Besuche in Echo Lodge gemacht. Manchmal fuhren Diana und sie über die Straße dorthin, manchmal wandelten sie durch den Wald. Konnte Diana nicht mitkommen, ging Anne allein. Zwischen Miss Lavendar und ihr hatte sich eine lebendige, hilfreiche Freundschaft entwickelt, wie es nur zwischen einer Frau, die sich im Herzen die jugendliche Frische bewahrt hat, und einem Mädchen, das zwar nicht Erfahrung, aber Phantasie und Einfühlungsvermögen besitzt, möglich ist. Anne hatte in Miss Lavendar eine »verwandte Seele« gefunden. Dafür kehrten mit Anne und Diana in Miss Lavendars einsames, zurückgezogenes Leben voller Träume die wohltuende Freude und Heiterkeit der Welt von draußen ein, an der Miss Lavendar »weltvergessen, von der Welt vergessen«, schon lange nicht mehr teilhatte. Sie brachten frischen Wind und Wirklichkeitssinn in das kleine Steinhaus. Charlotta die Vierte begrüßte sie stets mit dem breitesten Lächeln - Charlotta lächelte in der Tat von einem Ohr zum anderen - und mochte die beiden ihrer verehrten Miss Lavendar als auch um ihrer selbst wegen. Nie zuvor hatte es in dem kleinen Steinhaus solche »Übermütigkeit« gegeben wie in dem schönen, sich lange hinziehenden Herbst, in dem der November wie ein zweiter Oktober war und sogar noch der Dezember den Sonnenschein und die Dunstschleier des Sommers nachzuahmen versuchte.

Aber an diesem Tag schien es, als ob sich der Dezember daran erinnerte, dass es Zeit für den Winter war. Plötzlich war es trübe und trist geworden, wie Ruhe vor dem Sturm lag Schnee in der Luft. Trotzdem genoss Anne ihren Spaziergang durch den großen düsteren Irrgarten des Buchenwalds sehr. Auch allein kam er ihr nie einsam vor. In ihrer Phantasie war der Pfad mit munteren Weggefährten belebt, mit denen sie im Geiste lebhafte Unterhaltungen führte. Sie waren geistreicher und faszinierender als Unterhaltungen im wirklichen Leben meist sind, da so mancher leider nicht die Gabe dazu hat. In einer »eingebildeten« Versammlung ausgewählter Seelen sagt jede das, was man ihr in den Mund legt, und man hat Gelegenheit, das zu sagen, was man gern loswerden möchte. Begleitet von dieser unsichtbaren Gesellschaft durchquerte Anne den Wald und erreichte in eben dem Augenblick den Tannenweg, als es in großen federleichten Flocken sanft zu schneien anfing.

An der ersten Biegung stieß sie auf Miss Lavendar, die unter einer mächtigen, ausladenden Tanne stand. Sie trug ein Kleid in einem warmen satten Rot, Kopf und Schultern waren in einen silbergrauen Seidenschal gehüllt.

»Sie sehen aus wie die Königin der Tannenwaldfeen«, rief Anne vergnügt.

»Ich dachte mir doch, dass du heute kommst, Anne«, sagte Miss Lavendar und ging voraus. »Es freut mich umso mehr, als Charlotta die Vierte nicht da ist. Ihre Mutter ist krank, Charlotta musste die Nacht über nach Hause. Ich wäre sehr allein gewesen, wenn du nicht gekommen wärst - auch die Träume und das Echo hätten mir nicht ausreichend Gesellschaft leisten können. Oh, Anne, wie hübsch du bist«, setzte sie plötzlich hinzu und sah zu dem großen schlanken Mädchen mit dem vom Laufen leicht geröteten Gesicht auf. »Wie hübsch und wie jung! Siebzehn ist ein herrliches Alter, nicht wahr? Ich beneide dich«, sagte Miss Lavendar offen.

»Aber im Herzen sind Sie auch erst siebzehn«, lächelte Anne.

»Nein, ich bin alt oder jedenfalls mittelalt, was noch viel schlimmer ist«, seufzte Miss Lavendar. »Manchmal bilde ich mir ein, es stimme nicht, dann wiederum bin ich mir dessen klar bewusst. Anders als die meisten Frauen, die es einfach hinnehmen, kann ich mich nicht damit abfinden. Ich lehne mich noch genauso dagegen auf wie damals, als ich mein erstes graues Haar entdeckte. Na, Anne, schau nicht drein, als würdest du es verstehen. Mit siebzehn kann man es nicht verstehen. Ich tue trotzdem einfach so, als wäre ich auch siebzehn. Jetzt, wo du da bist, gelingt es mir. Du bringst immer wie ein Geschenk die Jugend mit. Wir werden uns einen netten Abend machen. Zuerst gibt es Tee - was möchtest du zum Tee? Überleg dir etwas Leckeres, Herzhaftes.«

An dem Abend war das kleine Steinhaus von Stimmen und Fröhlichkeit erfüllt. Hätte ein Fremder das Kochen, den Festschmaus, das Konfektmachen, das Lachen und das »So-tun-als-ob« beobachtet, so hätte er gewiss gefunden, dass Miss Lavendar und Anne sich ganz und gar nicht würdevoll benahmen, wie es sich für eine alte Jungfer von fünfundvierzig Jahren und eine gesittete Lehrerin gehörte. Als die beiden müde wurden, setzten sie sich auf den Teppich vor dem Kamin im Wohnzimmer. Es wurde nur von dem sanften Feuerschein erhellt und roch herrlich nach Miss Lavendars Rosen auf dem Kaminsims. Der Wind hatte zugenommen und pfiff ächzend und heulend ums Dach. Schneeflocken schlugen leise gegen die Fenster, so als würden Hunderte von Sturmfeen anklopfen und um Einlass bitten. »Ich bin ja so froh, dass du da bist, Anne«, sagte Miss Lavendar und biss ein Stück von ihrem Konfekt. »Wärst du nicht da, wäre ich traurig, sehr traurig, tieftraurig. Träume und Einbildungen sind am Tage und bei Sonnenschein gut und schön, aber wenn es Nacht wird und stürmt, genügen sie einem nicht. Dann verlangt es einen nach wirklichen Dingen. Aber davon verstehst du nichts - mit siebzehn versteht man davon nichts. Mit siebzehn gibt man sich mit Träumen zufrieden, weil man meint, die wirklichen Dinge würden einen später noch erwarten. Als ich siebzehn war, Anne, habe ich mir nicht vorgestellt, dass ich mit fünfundvierzig eine weißhaarige altejungfer sein würde, die nur mit Träumen ihr Leben füllt.«