24 - Ein Prophet in seinem eigenen Land
An einem Tag im Mai waren die Bewohner von Avonlea einigermaßen bestürzt über gewisse »Avonlea-Mädchen«, unterzeichnet mit »Ein Beobachter«, in den Täglichen Nachrichten von Charlottetown. Man hielt Charlie Sloane für den Verfasser, zum einen, weil besagter Charlie in der Vergangenheit ähnliche Ergüsse von sich gegeben hatte, zum anderen, weil eine der Meldungen eine spöttische Bemerkung über Gilbert Blythe enthielt. Die Jugendlichen von Avonlea hielten Gilbert Blythe und Charlie Sloane hinsichtlich der Gunst eines gewissen jungen Mädchens mit graugrünen Augen und viel Phantasie hartnäckig für Rivalen.
Die Gerüchte trafen wie üblich nicht zu. Gilbert Blythe hatte zusammen mit Anne die Meldungen verfasst und die Meldung über sich sogar selbst hinzugefügt. Nur zwei der Meldungen sind hier von Belang.
»Es geht das Gerücht, dass hier bei uns im Ort eine Hochzeit stattfinden wird, noch ehe die Gänseblümchen blühen. Ein neu zugezogener, hoch angesehener Bürger wird eine unserer meistgeschätzten Damen zum Hochzeitsaltar fuhren.«
»Onkel Abe, unser allseits bekannter Wetterprophet, hat für den 23.
Mai, Punkt 7 Uhr abends, einen schweren Gewittersturm vorhergesagt. Fast die gesamte Provinz wird von dem Sturm betroffen sein. Reisende sollten sich an dem Abend möglichst mit Schirm und Regenmantel ausrüsten.«
»Onkel Abe hat tatsächlich für irgendwann dies Frühjahr Sturm vorhergesagt«, sagte Gilbert. »Aber meinst du im Ernst, Mr Harrison will isabella Andrews heiraten?«
»Nein«, sagte Anne lächelnd, »er spielt höchstens mit Mr Harmon Andrews Dame. Aber Mrs Lynde meint, Isabella Andrews würde bestimmt heiraten, die sei dies Frühjahr in so blendender Stimmung.« Onkel Abe war ziemlich entrüstet über die Meldung. Er vermutete, der »Beobachter« wollte sich über ihn lustig machen. Erbost stritt er ab, je einen bestimmten Tag für den Sturm genannt zu haben, aber niemand glaubte ihm.
Das Leben in Avonlea ging seinen ruhigen, gleichförmigen Gang weiter. Das »Anpflanzen« war erfolgt; die Verschönerer feierten einen Baumpflanztag. Jedes Mitglied pflanzte eigenhändig fünf Bäume oder beauftragte jemand damit. Da der Verein inzwischen vierzig Mitglieder hatte, waren es im Ganzen zweihundert junge Bäume. Auf den roten Äckern grünte der erste Hafer, Apfelbäume streckten ihre großen blühenden Zweige über die Farmhäuser und die »Schneekönigin« schmückte sich als Braut für ihren Bräutigam. Anne schlief gern bei offenem Fenster und ließ sich den Duft der Kirschbäume übers Gesicht wehen. Sie fand das sehr poetisch. Marilla fand, sie setze ihr Leben aufs Spiel.
»Erntedank sollte im Frühjahr gefeiert werden«, sagte Anne eines Abends zu Marilla, als sie auf der Stufe an der Vordertür saßen und dem Quaken der Frösche lauschten. »Es wäre viel schöner als im November, wenn alles abgestorben ist und ruht. Dann muss man sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dankbar zu sein. Im Mai dagegen kann man gar nicht anders als dankbar sein . . . einfach, weil alles lebt. Ich fühle mich, wie Eva sich im Paradies gefühlt haben muss, bevor der Ärger losging. Ist das Gras dort in der Senke grün oder golden? Mir scheint, Marilla, dass ein Tag wie dieser, an dem Blumen blühen und der Wind schier verrückt vor Wonne nicht weiß, aus welcher Richtung er als Nächstes wehen soll, fast wie ein Tag im Himmel ist.«
Marilla schaute empört und sah sich besorgt um, dass auch ja nicht die Zwillinge in Hörweite waren. Gerade eben kamen sie um die Hausecke.
»Duftet es nicht toll heute?«, sagte Davy, schnupperte verzückt und schwang die Hacke mit seinen schmutzigen Händen. Er hatte in seinem Garten gewerkelt. Im Frühjahr hatte Marilla, um Davys Leidenschaft, in Matsch und Schlamm herumzuwühlen, in nützliche Bahnen zu lenken, Dora und ihm ein kleines Eckchen für einen Garten überlassen. Beide hatten sich auf die ihnen eigene Art und Weise ans Werk gemacht. Dora pflanzte, jätete Unkraut, goss sorgfältig - kurzum, sie ging nüchtern und sachlich vor. Ihr Beet war also bereits grün, mit sauberen geordneten Reihen Salat und Sommergemüsen. Davy dagegen ging eher mit Hingabe als mit Umsicht zu Werke. Er grub, hackte, rechte, goss und pflanzte so energisch um, dass die Pflänzchen keine Überlebenschance hatten.
»Wie geht es mit deinem Garten voran, Davy-Junge?«, fragte Anne. »Etwas langsam«, sagte Davy mit einem Seufzer. »Ich verstehe nicht, warum das Zeug nicht schnellerwächst. Milty Boulter sagt, ich hätte bei Mondfinsternis einsäen müssen. Daran liegt es. Er behauptet, man darf niemals säen oder ein Schwein schlachten oder sich die Haare schneiden oder sonstwas Wichtiges, wenn der Mond falsch steht. Stimmt das, Anne? Das will ich wissen.«
»Würdest du nicht jeden zweiten Tag die Pflanzen samt Wurzeln herausreißen, um nachzusehen, wie sie >am anderen Ende< wachsen, würden sie auch besser gedeihen«, sagte Marilla bissig.
»Nur sechs Stück habe ich herausgerupft«, wandte Davy ein. »Ich wollte nachsehen, ob an den Wurzeln Maden sind. Milty Boulter hat gesagt, wenn es nicht am Mond läge, müssten Maden schuld sein. Aber ich hab nur eine Made gefunden, eine riesig große, saftige, sich ringelnde Made. Ich hab sie auf einen Stein gelegt, einen anderen Stein genommen und sie platt gemacht. Das gab einen schönen Brei, kann ich euch sagen. Schade, dass es nicht mehr Maden gab. Dora hat ihren Garten zur selben Zeit eingesät wie ich und ihr Zeug wächst gut. Es kann nicht am Mond liegen«, sagte Davy nachdenklich. »Marilla, sieh dir den Apfelbaum an«, sagte Anne. »Als ob er lebte. Er streckte seine langen Arme aus, um elegant seine Röcke hochzuheben, damit wir ihn bewundern.«
»Die Gelben Duchesse tragen immer gut«, sagte Marilla zufrieden. »Der Baum wird dieses Jahr ganz überladen sein. Das freut mich richtig, die Sorte eignet sich prima für Kuchen.«
Aber weder Marilla noch Anne noch sonst jemand sollte in dem Jahr dazu kommen, mit gelben Duchesse-Äpfeln Kuchen zu backen.
Der 23. Mai kam - ein für die Jahreszeit ungewöhnlich heißer Tag, was niemand mehr auffiel als Anne und ihrem kleinen Bienenschwarm von Schülern, die in der Schule von Avonlea schwitzend über Bruchrechnen und Satzlehre standen. Den ganzen Vormittag über wehte ein heißer Wind. Nach Mittag legte er sich zu einer drückenden Stille. Um halb vier hörte Anne ein leises Donnergrollen. Sofort schickte sie die Schüler nach Hause, damit sie möglichst noch bevor der Sturm losbrach, zu Hause ankamen.
Als sie hinausgingen auf den Schulhof, nahm Anne trotz strahlenden Sonnenscheins eine gewisse Dunkelheit und Düsternis wahr. Annetta Bell griff nervös ihre Hand.
»Sehen Sie nur die düstere Wolke!«
Anne sah hin und stieß entsetzt einen Schrei aus. Aus Nordwesten kam rasend schnell eine gewaltige Wolke herangerollt, eine Wolke, wie sie sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Sie war tiefschwarz, außer an den wallenden, zerfetzten Rändern, wo sich ein grausiges fahles Weiß zeigte. Es sah unbeschreiblich bedrohlich aus, wie sie düster am klaren blauen Himmel aufragte. Hin und wieder schoss ein Blitz darüber, gefolgt von einem wütenden Grollen. Die Wolke hing so tief, dass sie fast die Spitzen der bewaldeten Hänge berührte.
Mr Harmon Andrews kam in seinem Wagen den Hügel hinuntergeholpert und trieb seine beiden Grauschimmel zu höchstem Tempo an. Gegenüber von der Schule hielt er an.