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»Scheint, dass Onkel Abe das erste Mal in seinem Leben einen Treffer gelandet hat, Anne«, rief er. »Sein Sturm kommt etwas vor der Zeit. Hast du je so eine Wolke gesehen? Los, alle Kleinen, die in meine Richtung müssen, steigen ein. Alle anderen, die weiter als eine Viertelmeile haben, stellen sich am Postamt unter, bis das Gewitter vorüber ist.«

Anne nahm Davy und Dora an die Hand und rannte, so schnell wie die kurzen Beinchen der Zwillinge es zuließen, den Hügel hinunter, den Birkenpfad entlang, durchs Veilchental und Willowmere. Sie kamen gerade eben rechtzeitig auf Green Gables an. Marilla empfing sie an der Tür. Sie hatte die Enten und Hühner in den Stall gescheucht. Als sie in die Küche stürzten, wurde es dunkel, so als wäre die Sonne von einem gewaltigen Atem ausgeblasen worden. Die dräuende Wolke schob sich vor die Sonne, eine Finsternis wie in der späten Abenddämmerung legte sich über die Erde. Im selben Augenblick prasselte unter krachendem Donner und einem blendend grellen Blitz Hagel nieder und hüllte die Welt in ein einziges weißes Toben. Durch den tosenden Sturm hörte man dumpf zerfetzte Äste auf dem Haus aufschlagen. Glas klirrte. Binnen drei Minuten waren in den West- und Nordfenstern sämtliche Scheiben zertrümmert. Der Hagel drang durch die Löcher. Der Fußboden war mit Hagelkörnern bedeckt, das kleinste war hühnereigroß. Eine Dreiviertelstunde lang tobte der Sturm unvermindert weiter und niemand, der ihn erlebte, vergaß ihn je wieder. Marilla, die dies eine Mal in ihrem Leben vor bloßem Entsetzen die Fassung verlor, kniete neben ihrem Schaukelstuhl in einer Ecke der Küche und keuchte und schluchzte bei den ohrenbetäubenden Donnerschlägen. Anne, weiß wie eine Wand, hatte das Sofa vom Fenster weggezerrt und saß da, die Zwillinge neben sich. Davy hatte beim ersten Krachen geheult: »Anne, Anne, ist das das Jüngste Gericht? Anne, Anne, ich war nie mit Absicht ungezogen!« Dann vergrub er seinen Kopf in Annes Schoß und verharrte so; er zitterte am ganzen Körper. Dora, ein bisschen blass, aber ziemlich gefasst, saß da und hielt ruhig und regungslos Annes Hand umklammert. Zweifellos hätte selbst ein Erdbeben Dora nicht aus der Ruhe gebracht.

Dann legte sich der Sturm so plötzlich, wie er losgebrochen war. Es hörte auf zu hageln, das Donnergrollen zog rollend und grummelnd nach Osten hin ab. Strahlend kam die Sonne zum Vorschein und beschien eine völlig veränderte Welt. Es war fast absurd, wie sich innerhalb einer knappen Dreiviertelstunde alles gewandelt hatte.

Marilla stand schwach und zitternd auf und sank in ihren Schaukelstuhl. Sie schaute verstört und sah um zehn Jahre gealtert aus. »Haben wir es alle heil überstanden?«, fragte sie ernst.

»Na klar«, piepste Davy fröhlich und war wieder ganz der alte. »Ich habe überhaupt keine Angst gehabt... nur ganz am Anfang. Es kam so plötzlich. Ich hatte mir kurz überlegt, dass ich am Montag nicht wie abgemacht gegen Teddy Sloane kämpfen würde. Aber jetzt hab ich es mir anders überlegt. Sag mal, Dora, hast du Angst gehabt?«

»Ja, ein bisschen«, sagte Dora artig, »aber ich habe mich an Annes Hand fest gehalten und die ganze Zeit nur gebetet.«

»Naja, wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich auch gebetet«, sagte Davy. »Aber«, fügte er triumphierend hinzu, »ich hab es, ohne zu beten, genauso gut überstanden wie du.«

Anne brachte Marilla ein Glas voll von ihrem starken Johannisbeerwein - wie stark er war, wusste Anne aus früheren Zeiten nur allzugut. Dann gingen sie an die Tür, um sich das Schauspiel anzusehen. So weit das Auge reichte, war die Erde von einem knietiefen, weißen Teppich aus Hagelkörnern bedeckt. Ganze Berge lagen zusammengeweht unter den Dachrinnen und auf den Stufen. Als nach drei, vier Stunden die Hagelkörner zu schmelzen begannen, war das ganze Ausmaß der Verwüstung erst richtig zu sehen. Jedes Grün in Feld und Garten war vernichtet. Nicht nur waren sämtliche Blüten von den Apfelbäumen dahin, sondern gute Zweige und Äste waren heruntergerissen worden. Die meisten der von den Verschönerern gepflanzten Bäume waren umgestürzt oder zerfetzt.

»Ist das noch dieselbe Welt wie vor einer Stunde?«, sagte Anne wie betäubt. »In so kurzer Zeit - diese Verwüstung!«

»So etwas hat es auf Prince Edwards Island noch nicht gegeben«, sagte Marilla. »Noch nie. Als ich ein Mädchen war, hat es mal einen schlimmen Sturm gegeben, aber im Vergleich hierzu war das nichts. Wir werden bestimmt noch von furchtbaren Zerstörungen hören.«

»Hoffentlich hat es keins der Kinder erwischt«, murmelte Anne besorgt. Wie sich später herausstellte, waren alle Kinder mit heiler Haut davongekommen, weil alle diejenigen, die eine ziemliche Strecke zu laufen hatten, Mr Andrews’ guten Rat befolgt und beim Postamt Schutz gesucht hatten.

»Da kommt John Henry Carter«, sagte Marilla.

John Henry kam verstört grinsend durch die Hagelkörner gewatet. »Oh, ist das nicht schrecklich, Miss Cuthbert? Mr Harrison schickt mich, um zu schauen, ob Sie es heil überstanden haben.«

»Wir sind alle noch am Leben«, sagte Marilla grimmig, »und das Haus wurde auch nicht getroffen. Ich hoffe, ihr habt es auch gut überstanden.«

»Ja. Nein, nicht so ganz. Wir wurden vom Blitz getroffen. Er ist in den Küchenschornstein eingeschlagen, kam durch den Kamin, hat Gingers Käfig umgestürzt, hat ein Loch in den Fußboden gerissen und ist in den Keller geschossen. Ja.«

»Hat Ginger etwas abbekommen?«, erkundigte sich Anne.

»Ja. Ziemlich viel. Er ist tot.«

Später ging Anne zu Mr Harrison, um ihn zu trösten. Er saß am Tisch und streichelte mit zitternder Hand das bunte Gefieder des toten Ginger.

»Armer Ginger, er wird dich nicht mehr beschimpfen, Anne«, sagte er traurig.

Anne hätte nie geglaubt, dass sie um Ginger weinen würde, aber ihr traten Tränen in die Augen.

»Er war meine einzige Gesellschaft, Anne, und jetzt ist er tot. Ach ja, ach ja, ich bin ein alter Narr, dass ich mir so viel daraus mache. Ich tu so, als ob es mir nichts ausmacht. Ich weiß, dass du mir dein Beileid aussprechen wirst, sobald ich aufhöre zu reden. Aber tu’s nicht. Wenn du was sagst, heule ich wie ein kleines Kind. War das nicht ein furchtbarer Sturm? Nie wieder werden die Leute über Onkel Abes Vorhersagen lachen. Scheint, dass all die Stürme, die er in seinem Leben schon vorhergesagt hat und nicht eingetroffen sind, alle zugleich gekommen sind. Das schlägt alles, wie er den richtigen Tag getroffen hat, nicht wahr? Sieh dir das Durcheinander hier an. Ich muss mich durchkämpfen und ein paar Bretter holen, um das Loch im Fußboden auszubessern.«

Die Bewohner von Avonlea waren tags darauf ausschließlich damit beschäftigt, einander zu besuchen und die Schäden zu vergleichen. Die Straßen waren für Wagen unpassierbar, also ging man zu Fuß oder nahm das Pferd. Die Zeitung kam sehr spät und meldete aus der ganzen Provinz schlimme Verwüstungen, ln Häuser war der Blitz eingeschlagen, es gab Tote und Verletzte. Das gesamte Telefon- und Telegraphennetz war zerstört, die Neuaussaat vernichtet worden. Onkel Abe bahnte sich früh am Morgen den Weg hinaus zum Laden und brachte den ganzen Tag dort zu. Das war Onkel Abes Stunde des Triumphs. Er genoss es in vollen Zügen. Man täte ihm Unrecht, wollte man behaupten, er hätte sich über den Sturm gefreut. Aber da es nun einmal dazu gekommen war, war er froh, dass er ihn vorhergesagt hatte ... noch dazu genau auf den Tag. Onkel Abe vergaß, dass er geleugnet hatte, je den Tag genannt zu haben. Dass die genaue Uhrzeit unbedeutend abwich, das galt nichts.

Am Abend kam Gilbert nach Green Gables und traf Marilla und Anne dabei an, wie sie emsig damit beschäftigt waren, Wachstuchstreifen über die zerborstenen Fenster zu nageln.

»Gott mag wissen, wann wir dafür Glas bekommen«, sagte Marilla. »Mr Barry war heute in Carmody, aber nicht für Geld und gute Worte war eine Scheibe aufzutreiben. Lawson und Blair waren schon um zehn Uhr ausverkauft, alles an die Leute aus Carmody. War es in White Sands schlimm mit dem Sturm, Gilbert?«