»Das kann man wohl sagen. Ich saß mit allen Kindern in der Schule gefangen und dachte, einige würden vor Angst durchdrehen. Drei fielen in Ohnmacht, zwei Mädchen bekamen einen Schreikrampf und Tommy Blewett hat die ganze Zeit geheult.«
»Ich hab nur einmal geheult«, sagte Davy stolz, »ln meinem Garten liegt alles platt am Boden«, fuhr er traurig fort. »Aber in Doras auch«, fügte er in einem Tonfall hinzu, der erkennen ließ, dass das für ihn wie Balsam war.
»Oh, Gilbert, weißt du schon das Neueste? Mr Levi Boulters altes Haus wurde vom Blitz getroffen und ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Ich komme mir richtig schlecht vor, dass ich mich darüber freue, wo so viel verwüstet wurde. Mr Boulter glaubt, der D.V.V. hätte den Sturm heraufbeschworen.«
»Naja, eins ist sicher«, sagte Gilbert lachend. »Der >Beobachter< hat Onkel Abe den Ruf eines Wetterpropheten verschafft. >Onkel Abes Sturm< wird in die Dorfgeschichte eingehen. Es ist schon ein seltener Zufall, dass er an genau dem Tag kam, den wir ausgesucht haben. Ich fühle mich direkt schuldig, so als hätte ich ihn wirklich >heraufbeschworen<. Wir können uns doch freuen, dass das alte Haus verschwunden ist, denn was unsere jungen Bäume angeht, da gibt es nichts zum Freuen. Keine zehn haben den Sturm heil überstanden.«
»Ja, dann müssen wir nächstes Frühjahr eben wieder neue pflanzen«, sagte Anne weise. »Wenigstens etwas Gutes gibt es auf der Welt -der nächste Frühling kommt bestimmt.«
25 - Skandal in Avonlea
An einem freundlichen Juni morgen, zwei Wochen nach Onkel Abes Sturm, kam Anne mit zwei kaputten weißen Narzissen in der Hand langsam aus dem Garten und über den Hof von Green Gables. »Schau mal, Marilla«, sagte sie betrübt und hielt die Blumen der grimmig dreinsehenden Marilla unter die Augen, die ein grünes Gingham-Kopftuch trug und mit einem gerupften Huhn ins Haus ging. »Das sind die einzigen Blumen, die vom Sturm verschont geblieben sind und auch sie sind nicht mehr ganz heil. Schade, ich wollte ein paar für Matthews Grab pflücken. Ihm haben Narzissen immer so gefallen.«
»Ich vermisse sie auch ein wenig«, gestand Marilla. »Obwohl man sich darüber wohl nicht beklagen sollte, wo viel Schlimmeres geschehen ist - all das Korn und die Früchte, die vernichtet worden sind.«
»Die Farmer haben neuen Hafer eingesät«, sagte Anne tröstend. »Mr Harrison meint, wenn wir einen schönen Sommer haben, wird er schon noch reif, wenn auch ein bisschen spät. Meine einjährigen Pflanzen sprießen auch wieder. Aber nichts kann die Narzissen ersetzen. Die arme Hester Gray bekommt auch keine mehr. Ich bin gestern ganz bis zu ihrem Garten gelaufen, aber da war nicht eine. Bestimmt vermisst sie sie.«
»Du sollst so etwas nicht sagen, Anne, wirklich«, sagte Manila streng. »Hester Gray ist seit dreißig Jahren tot und ihre Seele hoffentlich im Himmel.«
»Ja, aber bestimmt liebt sie ihren Garten noch immer und erinnert sich daran«, sagte Anne. »Egal wie lange ich schon im Himmel wäre, ich würde gern herunterschauen und sehen, wie jemand Blumen auf mein Grab legt. Hätte ich einen Garten wie Hester Gray, ich würde mehr als dreißig Jahre brauchen, auch im Himmel, um mein Heimweh danach zu überwinden.«
»Dass das nicht die Zwillinge hören«, wandte Marilla schwach ein, als sie das Huhn ins Haus brachte.
Anne steckte sich die Narzissen ins Haar und ging zum Tor am Weg, wo sie eine Weile stehen blieb und sich in der Junisonne sonnte. Dann ging sie ins Haus und erledigte ihre Aufgaben für Samstagmorgen. Die Welt wurde wieder schöner. Mutter Natur tat ihr Bestes, um die Spuren des Sturms zu tilgen. Auch wenn es noch Monate dauern würde, bis die letzten Spuren getilgt waren, sie vollbrachte wahre Wunder.
»Am liebsten würde ich heute den ganzen Tag lang faulenzen«, erzählte Anne einem Rotkehlchen, das auf einem Weidenast saß, sang und hin und her wippte. »Aber eine Lehrerin, die noch dazu Zwillinge großziehen hilft, kann nicht dem Nichtstun frönen, Vögelchen. Wie schön du singst, kleiner Vogel. Du drückst mit deinem Lied meine Gefühle viel besser aus, als ich es selbst könnte. Nanu, wer kommt denn da?«
Ein Transportwagen, auf dem vorn zwei Leute saßen und hinten ein großer Koffer stand, kam den Weg entlanggeholpert. Als er näher kam, erkannte Anne in dem Fahrer den Sohn des Bahnhofsvorstehers von Bright River. Seine Begleiterin war eine Fremde - eine ältere Frau, die am Tor flink aus der Kutsche sprang, fast noch ehe das Pferd zum Halten kam. Sie war klein und hübsch, an die fünfzig, hatte rosige Wangen, funkelnde schwarze Augen und glänzendes schwarzes Haar. Sie trug einen prachtvoll mit Blumen und Federn versehenen Hut. Obwohl sie acht Meilen auf einer staubigen Straße hinter sich hatte, sah sie, dem Sprichwort gemäß, wie aus dem Ei gepellt aus. »Wohnt hier Mr James A. Harrison?«, fragte sie resolut.
»Nein, Mr Harrison wohnt dort drüben«, sagte Anne baff.
»Nun, ich dachte mir gleich, das Gehöft sieht zu gepflegt aus - viel zu gepflegt, als dass James A. hier wohnen würde. Oder aber er müsste sich gewaltig geändert haben«, zwitscherte die Frau. »Stimmt es, dass James A. sich mit einer Frau hier aus dem Ort verheiraten will?«
»Nein, o nein«, rief Anne und wurde rot vor schlechtem Gewissen. Die Fremde musterte sie neugierig, so als verdächtige sie sie irgendwelcher Heiratsabsichten hinsichtlich Mr Harrison.
»Aber es stand in einer Zeitung von der Insel«, sagte die Unbekannte. »Eine Freundin hat mir die Ausgabe geschickt und den Artikel angekreuzt - Freundinnen sind zu solchen Diensten stets gern bereit. James A.’s Name stand unter der Rubrik >Neuzugezogener<.«
»Oh, das war nur ein Scherz«, sagte Anne und schnappte nach Luft. »Mr Harrison hat nicht die Absicht, überhaupt zu heiraten. Bestimmt nicht.«
»Da bin ich aber froh«, sagte die blühend aussehende Dame und stieg behende wieder auf den Sitz. »Denn zufällig ist er schon verheiratet. Ich bin seine Frau. Oh, da bist du überrascht. Vermutlich hat er sich als Junggeselle ausgegeben und sich als wahrer Herzensbrecher aufgespielt. So, James A.«, sagte sie und nickte heftig mit dem Kopf in Richtung des länglichen weißen Hauses hinter den Feldern, »der Spaß hat ein Ende. Hier bin ich, obwohl ich mir nicht die Mühe gemacht hätte herzukommen, wenn du nicht etwas im Schilde führtest.
Dieser Papagei«, sie wandte sich Anne zu, »flucht wohl noch genau wie eh und je?«
»Sein Papagei... ist tot... glaube ich«, keuchte die arme Anne, die in diesem Augenblick nicht einmal mehr ihren eigenen Namen mit Bestimmtheit kannte.
»Tot. Dann ist alles in Ordnung«, rief die Dame glücklich. »Mit James A. werde ich schon fertig, wenn mir nur dieser Vogel nicht mehr dazwischenfunkt.«
Mit diesen rätselhaften Worten machte sie sich auf den Weg, während Anne zur Küchentür stürzte, an der Marilla stand.
»Anne, wer war die Frau?«
»Marilla«, sagte Anne ernst, aber mit blitzenden Augen, »sehe ich aus, als wäre ich verrückt?«
»Nicht mehr als sonst«, sagte Marilla, ohne sarkastisch sein zu wollen.
»Gut, meinst du, ich träume?«
»Anne, was redest du für einen Unsinn. Wer war die Frau, habe ich gefragt?«
»Marilla, wenn ich nicht verrückt bin und auch nicht träume, dann muss es sie wirklich geben. So einen Hut hätte ich mir auch nie und nimmer in meiner Phantasie ausmalen können. Sie sagt, sie sei Mr Harrisons Frau, Marilla.«
Marilla starrte sie an.
»Seine Frau! Anne Shirley! Wieso hat er dann gesagt, er sei nicht verheiratet?«
»Das hat er nie ausdrücklich gesagt«, sagte Anne gerechterweise. »Er hat nie gesagt, er wäre nicht verheiratet. Die Leute haben es nur selbstverständlich angenommen. Oh, Marilla, was Mrs Lynde wohl dazu sagen wird?«
Was Mrs Lynde dazu sagen wird, fanden sie bei ihrem Besuch am selben Abend heraus. Mrs Lynde verwunderte es überhaupt nicht! Mrs Lynde hatte schon immer irgend so etwas erwartet! Mrs Lynde hatte gleich geahnt, dass es irgendwas mit Mr Harrison auf sich hatte!