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»Seine Frau im Stich zu lassen!«, sagte sie empört. »Davon liest man nur in den Staaten. Wer hätte so was hier in Avonlea für möglich gehalten?«

»Aber wir wissen doch gar nicht, ob er seine Frau verlassen hat«, protestierte Anne und war fest entschlossen, so lange an die Unschuld ihres Freundes zu glauben, bis seine Schuld bewiesen war. »Wir wissen überhaupt nicht, wie es wirklich war.«

»Nun, das werden wir bald wissen. Ich gehe gleich hin«, sagte Mrs Lynde, die nie gelernt hatte, dass es im Lexikon ein Wort wie Takt gab. »Von ihrer Ankunft weiß ich angeblich ja nichts. Mr Harrison wollte heute aus Carmody Medizin für Thomas mitbringen, also habe ich einen guten Vorwand. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, auf dem Rückweg vorbeikommen und euch berichten.«

Mrs Lynde stürmte los, wo Anne Angst gehabt hätte, auch nur einen Schritt zu unternehmen. Nichts hätte Anne dazu bewegen können, zu Mr Harrison zu gehen. Aber sie hatte ebenfalls eine natürliche, normale Neugier und war insgeheim froh, dass Mrs Lynde hingehen und das Rätsel lösen würde. Sie und Marilla warteten sehnsüchtig auf ihre Rückkehr, aber sie warteten vergebens. Mrs Lynde tauchte an dem Tag nicht wieder auf Green Gables auf. Davy, der um neun Uhr von den Boulters zurückkam, erklärte, warum.

»Ich hab im Hohlweg Mrs Lynde und eine fremde Frau getroffen«, sagte er. »Lieber Himmel, wie sie aufeinander einschwatzten! Von Mrs Lynde soll ich ausrichten, es täte ihr Leid, aber es wäre zu spät, um noch einmal vorbeizukommen. Anne, ich bin schrecklich hungrig. Wir haben um vier Uhr bei Milty Tee getrunken, und ich glaube, Mrs Boulter ist wirklich geizig. Sie hat uns kein Kompott und keinen Kuchen gegeben. Und das Brot schmeckte auch komisch.«

»Davy, wenn du bei jemand auf Besuch bist, sollst du nicht am Essen herummäkeln«, sagte Anne scharf. »Das gehört sich nicht.«

»Schon gut, ich denke es ja nur im Stillen«, sagte Davy munter. »Gib mir doch was zum Abendessen, Anne.«

Anne sah Marilla an, die ihr in die Speisekammer folgte und sorgsam die Tür schloss.

»Du kannst ihm Brot mit etwas Kompott geben, Anne. Ich weiß, was Tee bei Levi Boulter heißt.«

Davy nahm die Scheibe Brot mit Kompott seufzend entgegen.

»Die Welt ist enttäuschend«, bemerkte er. »Milty hat eine Katze, die Anfälle kriegt - sie hatte drei Wochen lang jeden Tag einen Anfall. Milty findet es schrecklich lustig, ihr dabei zuzusehen. Ich bin heute extra deswegen hingegangen, aber das gemeine Vieh bekam keinen Anfall, es war putzmunter. Milty und ich haben den ganzen Nachmittag auf der Lauer gelegen und gewartet. Aber macht nichts.« Davys Laune besserte sich, da ihm Bissen für Bissen das Pflaumenkompott Seelentrost spendete. »Vielleicht kriege ich es ja ein andermal zu sehen. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass die Anfälle plötzlich aufhören, wo sie sonst immer welche hatte, oder? Das Kompott schmeckt prima.«

Davy hatte keine Sorgen, die nicht mit Pflaumenkompott hätten kuriert werden können.

Der Sonntag war so verregnet, dass man nicht aus dem Haus gehen konnte. Aber am Montag kannte jeder eine andere Fassung der Harrison-Geschichte. In der Schule gab es ein einziges Getuschel. Davy kam mit jeder Menge Neuigkeiten zu Hause an.

»Marilla, Mr Harrison hat eine neue Frau. Naja, nicht so ganz neu, aber sie sind schon eine ganze Weile nicht mehr verheiratet gewesen, sagte Milty. Ich hab immer gedacht, einmal verheiratet, immer verheiratet. Aber Milty sagt, das stimmt nicht, man kann damit aufhören, wenn es einem nicht mehr gefällt. Milty sagt, eine Möglichkeit wäre, einfach zu verschwinden und die Frau sitzen zu lassen und das hätte Mr Harrison getan. Milty sagt außerdem, Mr Harrison hätte seine Frau verlassen, weil sie mit Gegenständen nach ihm geworfen hätte - mit schweren Gegenständen. Arty Sloane meint, er hätte sie verlassen, weil sie ihm das Rauchen verboten hätte. Ned Clay behauptet, es läge daran, weil sie ständig mit ihm geschimpft hätte. Wegen so was würde ich meine Frau nicht verlassen, ich würde nur hart durchgreifen und sagen: >Mrs Davy, du hast zu tun, was mir gefällt, denn ich bin der Herr im Haus!< Das würde sie schnell zum Schweigen bringen, schätze ich. Aber Annetta Clay behauptet, sie hätte ihn verlassen, weil er sich an der Tür nicht die Stiefel abputzt. Sie gibt nicht ihr die Schuld. Ich gehe auf der Stelle zu Mr. Harrison, um sie mir anzusehen.

Davy kam bald einigermaßen enttäuscht wieder.

»Mrs Harrison war nicht da. Sie ist mit Mrs Rachel Lynde nach Carmody gefahren, um neue Tapeten fürs Wohnzimmer zu besorgen. Mr Harrison möchte, dass Anne vorbeikommt, er will mit ihr reden. Stellt euch vor, der Fußboden ist geschrubbt und Mr Harrison war rasiert, obwohl gestern doch gar keine Kirche war.«

Die Harrison’sche Küche kam Anne ganz fremd vor. Der Boden war tatsächlich gewienert, ebenso alle Möbel. Der Ofen war auf Hochglanz poliert, sodass sie sich darin spiegeln konnte. Die Wände waren gestrichen, die Fensterscheiben glänzten im Sonnenlicht. Mr Harrison saß in seiner Arbeitskleidung am Tisch. Am Freitag hatte sie noch etliche Risse und Löcher gehabt, jetzt war sie ordentlich geflickt und gebürstet. Er war glatt rasiert, sein schütteres Haar war sorgfältig gekämmt.

»Setz dich, Anne, setz dich«, sagte Mr Harrison in einem Ton, wie ihn die Bewohner von Avonlea sonst bei Beerdigungen anschlugen. »Emily ist mit Rachel Lynde in Carmody. Sie hat mit ihr schon eine Freundschaft fürs Leben geschlossen. Wie gegensätzlich Frauen und Männer doch sind. Tja, Anne, meine schönen Zeiten sind vorbei — ein für allemal. Der Rest meines Lebens besteht nur noch aus Ordnung und Sauberkeit.«

Mr Harrison gab sich alle Mühe, traurig zu klingen, aber ein nicht zu unterdrückendes Zwinkern in seinen Augen verriet ihn.

»Mr Harrison, Sie sind doch froh, dass Ihre Frau zurückgekommen ist«, rief Anne und wies drohend mit dem Finger auf ihn. »Sie brauchen gar nicht so zu tun, als stimmte das nicht, ich sehe es Ihnen an.« Mr Harrison entspannte sich und zeigte ein dämliches Grinsen.

»Hm ... na ja ... ich werde mich daran gewöhnen«, räumte er ein. »Ich habe es nicht gerade bedauert Emily zu sehen. In einem Ort wie diesem, wo man nicht einmal mit einem Nachbarn Dame spielen kann, ohne dass man verdächtigt wird, dessen Schwester heiraten zu wollen - was dann auch noch in die Zeitung gesetzt wird -, kann ein Mann wirklich jemanden brauchen.«

»Niemand hätte behauptet, dass Sie Isabella Andrews heiraten wollen, wenn Sie nicht so getan hätten, als wären Sie nicht verheiratet«, sagte Anne scharf.

»Das habe ich nicht. Hätte mich jemand gefragt, ob ich verheiratet bin, dann hätte ich es zugegeben. Aber man ist einfach davon ausgegangen, ich wäre nicht verheiratet. Ich wollte nicht unbedingt darüber reden. Es war ein wunder Punkt. Für Mrs Lynde wäre die Welt zusammengebrochen, wenn sie gewusst hätte, dass meine Frau mich verlassen hat, nicht wahr?«

»Aber manche behaupten, Sie hätten Ihre Frau verlassen.«

»Sie hat angefangen, Anne, sie hat angefangen. Ich erzähle dir die ganze Geschichte. Du sollst nicht schlechter von mir denken als ich es verdiene - von Emily auch nicht. Aber lass uns nach draußen auf die Veranda gehen. Hier drinnen ist alles so furchtbar ordentlich, dass ich sozusagen Heimweh bekomme. Nach einer Weile werde ich mich wohl daran gewöhnen, aber ich sehe lieber auf den Hof hinaus. Den Hof zu säubern, hatte Emily noch nicht die Zeit.«

Als sie es sich auf der Veranda bequem gemacht hatten, begann Mr Harrison mit seiner Leidensgeschichte.

»Bevor ich hierher kam, Anne, wohnte ich in Scottsford, New Brunswick. Meine Schwester führte mir den Haushalt. Mit ihr war ich recht zufrieden. Sie war ganz passabel ordentlich, ließ mich in Ruhe und verwöhnte mich, behauptet Emily. Aber vor drei Jahren starb sie. Sie machte sich Gedanken, was aus mir werden sollte, bis sie mir schließlich das Versprechen abnahm zu heiraten. Sie riet mir zu Emily Scott, weil Emily Geld hatte und eine vorbildliche Hauswirtschafterin war. Ich sagte: >Emily Scott würde mich keines Blickes würdigen< Genau das sagte ich. >Frage sie, dann wirst du sehen<, sagte meine Schwester. Nur um ihrer Seelenruhe willen versprach ich sie zu fragen und das habe ich getan. Emily sagte, sie würde mich nehmen. Ich war mein Lebtag nicht so überrascht, Anne - eine so kluge, hübsche Frau und ich alter Knabe! Zuerst, kann ich dir sagen, war ich glücklich. Na ja, wir heirateten und machten eine zweiwöchige Hochzeitsreise nach St. John, dann fuhren wir nach Hause. Wir kamen um zehn Uhr abends an. Und das schwöre ich dir, Anne, keine halbe Stunde und diese Frau machte sich ans Putzen. Ah, ich weiß, du meinst, mein Haus hatte es nötig. Das steht dir im Gesicht geschrieben, Anne. Aber mein Haus hatte es nicht nötig, jedenfalls nicht so gründlich. In meiner junggesellenzeit war alles ein bisschen durcheinander, das gebe ich zu, aber vor meiner Heirat kam eine Frau und hat aufgeräumt. Es wurde ziemlich viel neu gestrichen und repariert. Ich sage dir, wenn du Emily in einen brandneuen blitzblanken Marmorpalast führen würdest, sie würde anfangen zu schrubben, so schnell könnte sie gar nicht in ihr altes Kleid schlüpfen. Tja, sie putzte bis ein Uhr nachts. Um vier stand sie auf und machte sich wieder ans Werk. So ging es weiter - soweit ich es sehe, hat sie nie mehr damit aufgehört. Es war ein ewiges Scheuern, Fegen und Staubwischen, außer sonntags, dann sehnte sie sich nach dem Montag, um von vorn anzufangen. Es machte ihr Spaß. Ich hätte mich ja damit abgefunden, wenn sie mich in Ruhe gelassen hätte. Aber das tat sie nicht. Sie wollte mich umkrempeln, aber ich war schon zu alt, als sie sich mich schnappte. Ich durfte nicht ins Haus gehen, solange ich an der Tür nicht meine Stiefel ausgezogen und Pantoffeln angezogen hatte. Ich durfte um nichts auf der Welt meine Pfeife rauchen, außer in der Scheune. Und ich drückte mich nicht fein genug aus. Emily war früher Lehrerin gewesen, das hat sie nie überwunden. Dann konnte sie nicht ausstehen, wenn sie sah, wie ich mit dem Messer aß. Naja, es war ein einziges Gekeife und Gezeter. Aber, Anne, um ehrlich zu sein, ich war auch giftig. Ich habe mich gar nicht bemüht, mich zu bessern. Ich wurde nur wütend und gemein, wenn sie einen Fehler entdeckte. Eines Tages sagte ich zu ihr, sie hätte sich ja auch nicht über meine Ausdrucksweise beklagt, als ich ihr den Heiratsantrag machte. Das war nicht gerade taktvoll. Ja, so ging es mit dem Gezanke weiter. Es war nicht schön, aber wir hätten uns schon zusammengerauft, wäre da nicht Ginger gewesen. Ginger war die Klippe, an der wir gescheitert sind. Emily mag Papageien nicht, aber dieses Lästermaul von Ginger hasste sie regelrecht. Ich hing an dem Vogel, meinem Bruder, dem Seemann, zuliebe. Als wir noch klein waren, war mein Bruder, der Seemann, mir das Liebste auf der Welt. Bevor er starb, hat er mir Ginger geschickt. Wie sollte ich mich über sein Fluchen aufregen. Es gibt nichts Schlimmeres als Menschen, die fluchen. Aber ein Papagei wiederholt nur das, was er, ohne es zu begreifen, aufgeschnappt hat, wie wenn ich Chinesisch reden würde. Emily sah es anders. Sie versuchte Ginger das Fluchen abzugewöhnen, aber sie hatte damit nicht mehr Erfolg, als mir abzugewöhnen >verstehste< zu sagen und >alles diese Sachen<. Mir kam es vor, dass es mit Ginger, genau wie mit mir, umso schlimmer wurde, je mehr sie sich abmühte.