Mrs Lynde saß in der Küche von Green Gables und hatte Marilla die ganze Geschichte erzählt.
»Nun, wie gefällt dir Mrs Harrison?«, fragte sie Anne.
»Sehr. Sie ist wirklich nett.«
»Ja, das ist sie«, sagte Mrs Rachel mit Nachdruck. »Wie ich gerade schon zu Marilla sagte, ich meine, wir sollten ihr zuliebe über Mr Harrisons Eigenheiten hinwegsehen und ihr das Gefühl geben, dass sie hier zu Hause ist. So, ich muss gehen. Thomas wird schon auf mich warten. Seit Eliza da ist, bin ich nur selten außer Haus gewesen. Die letzten Tage ist Thomas viel besser auf dem Damm, aber ich mag ihn nicht lange allein lassen. Ich habe gehört, Gilbert Blythe hat in White Sands aufgehört. Er wird also wohl im Herbst aufs College gehen?«
Mrs Rachel sah Anne durchdringend an, aber Anne beugte sich über den schlafenden Davy, der auf dem Sofa eingenickt war, und wurde nicht ein bisschen rot. Sie trug Davy ins Bett und drückte ihr ovales mädchenhaftes Gesicht an Davys strohblonden Lockenkopf. Als sie die Treppe hinaufgingen, legte Davy halb im Schlaf einen Arm um Anne, umarmte sie herzlich und gab ihr einen feuchten Kuss.
»Du bist schrecklich lieb, Anne. Milty Boulter hat das heute auf seine Tafel geschrieben und es Jennie Sloane gezeigt:
>Rosen sind rot, sind rot immerzu,
Zucker ist süß, und so bist auch du.<
Genau das drückt mein Gefühl für dich aus, Anne.«
26 - Hinter der Biegung in der Straße
Thomas Lynde entschlief so sanft und leise, wie er gelebt hatte. Seine Frau war ihm eine geduldige, unermüdliche Krankenpflegerin bis zum Schluss. Manchmal war sie zu ihrem Thomas in seinen gesunden Zeiten ein wenig hart gewesen, wenn er begriffsstutzig oder zu nachgiebig war. Aber als er krank wurde, war keine Stimme leiser, keine Hand sanfter und geschickter, kein Wachen an seinem Bett klagloser gewesen.
»Du warst mir eine gute Frau, Rachel«, sagte er eines Nachts schlicht, als sie bei ihm saß und ihre abgearbeitete Hand seine magere, fahle alte Hand hielt. »Eine gute Frau. Es tut mir Leid, dass ich dich mit so wenig zurücklassen muss. Die Kinder werden sich um dich kümmern. Sie sind klug und tüchtig, genau wie ihre Mutter. Eine gute Mutter... eine gute Frau.«
Dann war er entschlafen. Als am nächsten Morgen über den Tannenwipfeln in der Senke weiß der Morgen dämmerte, ging Marilla leise in den Ostgiebel und weckte Anne.
»Anne, Thomas Lynde ist gestorben. Der Dienstjunge hat eben Bescheid gegeben. Ich gehe gleich zu Rachel.«
Am Tag nach Thomas Lyndes Beerdigung wanderte Marilla mit einem seltsam gedankenverlorenen Blick auf Green Gables umher. Hin und wieder sah sie Anne an, so als wollte sie etwas sagen, dann schüttelte sie den Kopf und machte den Mund wieder zu. Nach dem Tee besuchte sie Mrs Rachel. Als sie wiederkam, ging sie in den Ostgiebel, wo Anne Schulhefte korrigierte.
»Wie geht es Mrs Lynde heute?«, fragte Anne.
»Sie ist ruhiger und gelassener«, antwortete Marilla und setzte sich auf Annes Bett - was ihre ungewöhnliche innere Unruhe verriet, denn in Marillas Vorstellung von Haushaltsführung war es unverzeihlich, sich auf ein gemachtes Bett zu setzen. »Aber sie ist sehr allein. Eliza musste heute nach Hause zurückkehren. Ihr Sohn ist krank, sie konnte nicht länger bleiben.«
»Wenn ich hiermit fertig bin, laufe ich hinüber und plaudere ein Weilchen mit Mrs. Lynde«, sagte Anne. »Ich wollte eigentlich ein bisschen Latein lernen, aber das kann warten.«
»Gilbert Blythe wird im Herbst wohl aufs College gehen«, sagte Marilla plötzlich. »Würdest du auch gern gehen, Anne?«
Anne schaute verwundert auf.
»Sicher, Marilla. Aber es ist ausgeschlossen.«
»Es lässt sich schon machen. Ich fand schon immer, du solltest gehen. Der Gedanke, dass du meinetwegen darauf verzichtest, belastet mich.«
»Aber, Marilla, ich habe es nicht einen Augenblick bedauert, zu Hause zu bleiben. Ich war so glücklich. Die zwei vergangenen Jahre waren einfach herrlich.«
»0 ja, das weiß ich schon. Aber das ist nicht der Kern der Sache. Du solltest dich weiterbilden. Du hast genügend Ersparnisse, die für das erste Jahr in Redmond reichen. Die Zinsen würden für das zweite Jahr reichen, du könntest Stipendien gewinnen.«
»Ja, aber es geht nicht, Marilla. Deine Augen haben sich zwar gebessert, aber ich kann dich mit den Zwillingen nicht allein sitzen lassen. Man muss ständig ein Auge auf sie haben.«
»Ich würde ja nicht allein mit ihnen sein. Das ist der Punkt, den ich mit dir besprechen will. Ich habe mich heute lange mit Rachel unterhalten, Anne, es geht ihr in vielerlei Hinsicht gar nicht gut. Sie hat nicht viel Geld. Vor acht Jahren haben sie eine Hypothek auf die Farm aufgenommen, um dem jüngsten Sohn im Westen einen Neubeginn zu ermöglichen. Seither haben sie gerade die Zinsen abbezahlen können. Dann hat natürlich Thomas’ Krankheit eine Menge Geld verschlungen. Die Farm muss verkauft werden. Rachel meint, bis alle Rechnungen beglichen sind, wird kaum noch etwas übrig sein. Sie wird die Farm verlassen und zu Eliza ziehen müssen. Der Gedanke, aus Avonlea weg zu müssen, bricht ihr das Herz. Eine Frau in ihrem Alter mache nicht mehr so leicht neue Bekanntschaften. Als sie mir das erzählte, Anne, ging mir durch den Kopf, dass ich sie fragen könnte, hier bei mir zu wohnen. Aber bevor ich es ihr anbiete, wollte ich es mit dir bereden. Wenn Rachel hier wohnen würde, könntest du aufs College gehen. Wie findest du das?«
»Das kommt mir vor, als hätte mir jemand ... den Mond vom Himmel geholt. . . und ich weiß nicht... was ich damit anfangen soll«, sagte Anne wie benommen. »Aber was Mrs Lynde angeht, das musst du entscheiden, Manila. Meinst du ... bist du sicher... du willst es? Mrs Lynde ist eine herzensgute Frau und nette Nachbarin, aber . .. aber. ..«
»Aber sie hat ihre Fehler, wolltest du sagen?Ja, gewiss. Doch ich würde noch viel eher schlimmere Fehler hinnehmen können, als Rachel aus Avonlea Weggehen zu sehen. Ich würde sie schrecklich vermissen. Sie ist meine einzige enge Freundin hier am Ort. Ohne sie wäre ich verloren. Seit funfundvierzig Jahren sind wir Nachbarinnen und hatten nie Streit - obwohl es kurz davor war, als du damals auf Mrs Rachel losgingst, weil sie dich ein hässliches, rothaariges Mädchen nannte. Erinnerst du dich, Anne?«
»0 ja«, sagte Anne reuevoll. »So was vergisst man nicht. Wie ich die arme Mrs Rachel in dem Augenblick gehasst habe!«
»Und dann deine >Entschuldigung<. Naja, du warst wirklich eine Nervensäge, Anne. Ich wusste einfach nicht, wie ich dich anpacken sollte. Matthew verstand das besser.«
»Matthew verstand alles«, sagte Anne sanft, wie sie stets von ihm sprach.
»Nun, jedenfalls konnte die Sache bereinigt werden, sodass Rachel und ich nicht aneinander rasselten. Wenn zwei Frauen unter einem Dach nicht miteinander auskommen, liegt das ohnehin meist daran, dass sie gemeinsam in der Küche herumfuhrwerken und einander in die Quere kommen. Würde Rachel also herkommen, könnte sie im Nordgiebel ihr Schlafzimmer einrichten und das Gästezimmer als Küche. Das Gästezimmer brauchen wir sowieso nicht. Sie könnte ihren Herd dort aufstellen und die Möbel, die sie behalten will. Sie könnte es sich richtig gemütlich machen und wäre unabhängig. Natürlich würde sie genug zum Leben haben - dafür würden ihre Kinder sorgen. Ich würde ihr nur ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen. Ja, Anne, was mich angeht, mir würde es gefallen.«
»Dann frage sie«, sagte Anne sofort. »Mir würde es auch Leid tun, wenn Mrs Rachel fortginge.«