»Wenn sie einverstanden ist«, fuhr Marilla fort, »kannst du gut aufs College gehen. Sie leistet mir Gesellschaft und erledigt für die Zwillinge, was ich nicht tun kann. Also gibt es keinen plausiblen Grund, weshalb du nicht gehen könntest.«
An dem Abend stand Anne lange am Fenster und dachte nach. Freude und Bedauern kämpfte in ihr. Sie war schließlich doch, plötzlich und unerwartet, zur Biegung ihrer Straße gelangt. Das College lag hinter der Biegung, mit hundert regenbogenfarbigen Hoffnungen und Träumen. Aber Anne war sich auch darüber im Klaren, dass sie viel Schönes hinter sich ließ, wenn sie um die Biegung ging - all die einfachen Pflichten und die Freundschaften, die ihr in den vergangenen zwei Jahren so ans Herz gewachsen waren und die sie durch ihre Begeisterung zu etwas Schönem und Freudigem gemacht hatte. Sie würde die Schule aufgeben müssen - und sie hatte alle ihre Schüler gern, auch die dummen und ungezogenen. Sie brauchte nur an Paul Irving zu denken und sie fragte sich, ob Redmond sie überhaupt reizen konnte.
»Ich habe in den letzten Jahren viele kleine Wurzeln geschlagen«, erzählte Anne dem Mond. »Wenn ich nun entwurzelt werde, tut das sehr weh. Aber es muss sein, denke ich. Und, wie Marilla sagt, es gibt keinen plausiblen Grund, nicht zu gehen.«
Am nächsten Tag schickte Anne die Kündigung ab. Mrs Rachel nahm nach einem offenen und ehrlichen Gespräch mit Marilla dankbar das Angebot an auf Green Gables zu wohnen. Den Sommer über jedoch wollte sie in ihrem Haus bleiben. Die Farm würde erst im Herbst verkauft werden, dafür gab es noch etliche Absprachen zu treffen.
»Ich wollte nie so weit ab von der Straße wohnen«, sagte sie seufzend zu sich. »Aber so aus der Welt, wie es mir immer vorkam, ist Green Gables auch wieder nicht. Anne hat viele Freunde und die Zwillinge bringen Leben ins Haus. Überhaupt würde ich lieber am Brunnengrund leben, als aus Avonlea Weggehen.«
Diese zwei Beschlüsse verbreiteten sich in Windeseile und verdrängten Mrs Harrison als Thema Nummer eins von der Tagesordnung. Viele schüttelten den Kopf über Manilas überstürzte Entscheidung, Mrs Rachel bei sich aufzunehmen. Die Leute meinten, die beiden würden nicht miteinander auskommen. Sie hätten beide »ihren eigenen Kopf«. Es wurden jede Menge düstere Vorhersagen gemacht, wovon sich die beiden jedoch nicht beirren ließen. Sie hatten sich klar und entschieden hinsichtlich ihrer zukünftigen Pflichten und Rechte geeinigt und wollten sich auch daran halten.
»Ich mische mich nicht in deine Angelegenheit ein und du dich nicht in meine«, hatte Mrs Rachel bestimmt gesagt. »Was die Zwillinge angeht, tue ich gern alles, was in meinen Kräften steht. Aber auf Davys Fragerei lasse ich mich nicht ein. Ich bin kein Lexikon und auch keine Rechtsgelehrte, die sich in allen Tricks und Kniffs auskennt. In dem Punkt wird Anne dir fehlen.«
»Manchmal sind Annes Antworten fast so merkwürdig wie Davys Fragen«, sagte Marilla trocken. »Die Zwillinge werden sie vermissen, ohne Zweifel. Aber sie kann nicht ihre Zukunft Davys Wissensdurst opfern. Ich kann seine Fragen nicht beantworten und sage ihm nur, Kinder müssen aus sich selbst heraus lernen. So wurde ich großgezogen und der Weg war auch nicht schlechter als diese neumodischen Methoden der Kindererziehung.«
»Hm, Annes Methoden scheinen bei Davy ganz gut funktioniert zu haben«, sagte Mrs Lynde lächelnd. »Er ist wie umgewandelt.«
»Er ist nicht durch und durch schlecht«, räumte Marilla ein. »Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Kinder je so gern haben würde. Davy kann einen ganz schön auf Trab halten. Dora dagegen ist ein artiges Kind, aber sie ist... na ja, ein bisschen ...«
»Langweilig? Genau«, ergänzte Mrs Rachel. »Wie ein Buch, in dem eine Seite der ändern gleicht.«
»Aus Dora wird eine gute, verlässliche Frau, aber sie wird niemals das Meer entflammen. Die Sorte Mensch kann man gut um sich haben, auch wenn sie nicht so interessant ist wie die andere Sorte.«
Gilbert Blythe war vielleicht der Einzige, der Annes Kündigung mit ungetrübter Freude aufnahm. Für ihre Schüler war es die reinste Katastrophe. Annetta Bell brach auf dem Nachhauseweg in Tränen aus. Anthony Pye focht ohne ersichtlichen Grund regelrechte Schlachten gegen zwei andere Jungen, um sich so Erleichterung zu verschaffen. Barbara weinte die ganze Nacht lang. Paul Irving sagte trotzig zu seiner Großmutter, sie brauche gar nicht damit zu rechnen, dass er die nächsten Wochen seinen Porridge anrühren würde.
»Ich kann nicht, Großmutter«, sagte er. »Ich bringe nicht einen Bissen hinunter. Es ist, als hätte ich einen riesigen Kloß im Hals. Auf dem Nachhauseweg von der Schule hätte ich am liebsten geheult, wenn Jake Donnell mich nicht beobachtet hätte. Ich glaube, ich werde heute Abend im Bett weinen. Das sieht man morgen meinen Augen doch nicht an, nicht wahr? Es wäre eine große Erleichterung. Porridge jedenfalls kann ich nicht essen. Ich brauche meine ganze Kraft, um das durchzustehen, Großmutter. Da habe ich keine Kraft mehr übrig, um mich noch mit dem Porridge auseinander zu setzen. Oh, Großmutter, ich weiß nicht, was ich tun soll, jetzt, wo meine liebe Lehrerin weggeht. Milty Boulter sagt, er gehe jede Wette ein, dass Jane Andrews die Stelle bekommt. Miss Andrews mag ja ganz nett sein. Aber von Sachen, wie Miss Shirley sie versteht, hat sie keine Ahnung.«
Auch Diana sah die Sache sehr düster.
»Nächsten Winter wird es hier schrecklich einsam sein«, sagte sie traurig eines Abends in der Dämmerung, als die Mädchen im Ostgiebel hockten und sich unterhielten. Das Mondlicht fiel zart und silbern durch die Kirschzweige und erfüllte den Ostgiebel mit einem weichen, traumgleichen Glanz. Anne saß in dem niedrigen Schaukelstuhl am Fenster, Diana mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett. »Du und Gilbert seid nicht mehr da und die Allans auch nicht. Man hat Mr Allan die Stelle in Charlottetown angeboten. Er will sie annehmen. Es ist einfach schrecklich. Die Stelle hier wird wohl den ganzen Winter über unbesetzt bleiben und wir müssen endlos vielen Bewerbern lauschen, wovon die Hälfte sowieso nichts taugt.«
»Hoffentlich berufen sie nicht Mr Baxter aus East Grafton«, sagte Anne bestimmt. »Er möchte gern die Stelle haben, aber er hält immer so düstere Predigten. Mr Bell sagt, er sei ein Geistlicher der alten Schule. Aber Mrs Lynde meint, er leide einzig und allein an Verdauungsstörungen. Seine Frau ist scheinbar keine gute Frau. Mrs Lynde sagt, wenn ein Mann von drei Wochen zwei Wochen lang nichts als Sauerbrot zu essen bekommt, könnte er ja gar nicht richtig ticken. Mrs Allan zieht ungern von hier weg. Alle wären vom ersten Tag an, als sie als junge Braut hierher kam, so nett zu ihr gewesen. Ihr wäre zumute, als würde sie uralte Freunde zurücklassen. Außerdem, weißt du, ist da das Grab ihres Babys. Sie mag ihr Kind gar nicht zurücklassen. Es war ein so niedliches kleines Wurm, erst drei Monate alt. Bestimmt würde es seine Mutter vermissen. Obwohl sie es natürlich besser weiß und das auch nie Mr Allan gegenüber sagen würde. Sie hat erzählt, dass er fast jeden Abend durch den Birkenwald hinter dem Pfarrhaus zum Friedhof gegangen ist und dem Baby ein Schlaflied gesungen hat. Das hat sie mir an dem Abend erzählt, als ich ein paar von den ersten wilden Rosen auf Matthews Grab gelegt habe. Ich habe ihr versprochen, solange ich in Avonlea bin, würde ich Blumen auf das Grab ihres Kindes legen, und wenn ich fort bin, würde bestimmt. .. «
» . . . ich es übernehmen«, vollendete Diana den Satz. »Ja, natürlich. Und dir zuliebe lege ich auch Blumen auf Matthews Grab, Anne.«
»Oh, danke. Ich wollte dich schon darum bitten. Auf Hester Grays Grab auch? Bitte vergiss ihres nicht. Verstehst du, ich habe so oft an sie gedacht und von ihr geträumt, dass sie mir, so eigenartig es sein mag, wirklich vorkommt. Ich stelle sie mir in dem kühlen, stillen, grünen Gärtchen vor. Ich bilde mir ein, wie ich eines Abends im Frühling zur verzauberten Stunde zwischen Tag und Nacht dort hinhusche und auf Zehenspitzen so leise den Buchenhügel hinaufgehe, dass meine Schritte ihr keine Angst einflößen. Dann würde ich den Garten vorfinden, wie er früher war - voller Narzissen, wilder Rosen und das winzige Haus dahinter voller Weinranken. Hester Gray mit ihren freundlichen Augen würde da sein, der Wind würde durch ihr dunkles Haus streichen. Sie würde umhergehen, mit den Fingerspitzen die Narzissenkelche berühren und den Rosen Geheimnisse zuflüstern. Ich würde ganz leise auf sie zugehen, die Hände ausstrecken und sagen: >Liebe Hester Gray, darf ich deine Spielkameradin sein, weil ich die Rosen auch mag?< Sie würde sich auf die alte Bank setzen. Wir würden ein wenig plaudern, uns etwas ausmalen oder einfach nur still dasitzen. Dann würde der Mond aufgehen. Ich würde mich umschauen - aber da gäbe es keine Hester Gray, nicht das von Weinreben berankte Haus und keine Rosen, sondern nur einen alten Garten voller Narzissen im Gras. Der Wind würde sachte durch die Kirschbäume streichen. Und ich würde nicht wissen, ob es wirklich gewesen war oder ob ich das alles nur geträumt hatte.«