»Sie gehören zu denen, die immer nette Sachen auf Vorrat in der Speisekammer haben«, verkündete Paul. »Genau wie Großmutter. Aber kleine Imbisse zwischen den Mahlzeiten, das gibt es bei ihr nicht. Ich frage mich«, fügte er nachdenklich hinzu, »ob ich die kleinen Imbisse nicht woanders zu mir nehmen sollte, wo sie nun mal dagegen ist.«
»Nach einem langen Spaziergang würde sie bestimmt eine Ausnahme machen. Dann ist es etwas anderes«, sagte Miss Lavendar und warf Anne über Pauls braunen Lockenkopf hinweg belustigte Blicke zu. »Kleine Imbisse sind ausgesprochen ungesund. Wir halten es genau entgegengesetzt. Charlotta die Vierte und ich, wir leben entgegen aller Regeln der Ernährung. Wir essen zu jeder Tages- und Nachtzeit alle möglichen schwer verdaulichen Sachen und gedeihen wie Bäume am Wasser. Wir nehmen uns immer vor, uns zu bessern. Wenn wir in der Zeitung einen Artikel lesen, in dem vor einer unserer Lieblingsspeisen gewarnt wird, schneiden wir ihn aus und hängen ihn zur Erinnerung an die Küchenwand. Aber irgendwie denken wir erst wieder daran, wenn wir besagtes Essen verspeist haben. Bis jetzt haben wir es heil überstanden. Aber Charlotta die Vierte hatte einmal Alpträume, nachdem wir Krapfen, gefüllte Pastete und Früchtekuchen vor dem Zubettgehen gegessen hatten.«
»Großmutter gibt mir vor dem Zubettgehen immer nur ein Glas Milch und eine Scheibe Butterbrot zu essen. Nur sonntags streicht sie Marmelade aufs Brot«, sagte Paul. »Also freue ich mich immer auf Sonntagabend - aber nicht nur aus dem Grund. Die Sonntage an der Uferstraße sind immer so langweilig. Großmutter kommen sie zu kurz vor. Vater hätte als kleiner Junge Sonntage nicht langweilig gefunden, sagt sie. Ich würde sie auch nicht langweilig finden, wenn ich mich mit meinen Felsen-Menschen unterhalten könnte, aber an Sonntagen hat Großmutter es mir verboten. Also denke ich über dies und jenes nach. Es sind mehr weltliche Gedanken. Großmutter sagt, am Sonntag solle man nur über religiöse Dinge nachdenken. Die Lehrerin hat einmal gesagt, jeder schöne Gedanke wäre fromm, egal, worum es sich handelt oder an welchem Tag man ihn denkt. Großmutter meint, dass man sich nur bei Predigten und in den Unterrichtsstunden in der Sonntagsschule wirklich fromme Gedanken macht. Weil meine Großmutter und die Lehrerin verschiedener Auffassung sind, weiß ich nicht, woran ich bin. Im Innern«, Paul legte die Hand auf die Brust und sah mit seinen ernsten blauen Augen in Miss Lavendars verständnisvolles Gesicht, »stimme ich mit der Lehrerin überein. Andererseits, verstehen Sie, hat Großmutter Vater nach ihren Auffassungen erzogen und das war ein voller Erfolg. Die Lehrerin hat bisher noch niemanden großgezogen, allerdings hilft sie Davy und Dora aufzuziehen. Aber man weiß nicht, was aus ihnen wird, wenn sie erwachsen sind. Manchmal finde ich es sicherer, mich an Großmutters Ansichten zu halten.«
»Das solltest du auch«, stimmte Anne ihm ernst zu. »Wenn deine Großmutter und ich der Sache allerdings auf den Grund gingen, würde sich bestimmt herausstellen, dass wir beide dasselbe meinen und es nur in anderen Worten ausdrücken. Richte dich lieber nach deiner Großmutter, sie spricht aus Erfahrung. Man muss abwarten, was aus den Zwillingen wird, ehe feststeht, dass mein Weg ebenso gut ist.« Nach dem Essen gingen sie wieder in den Garten, wo Paul staunend und voller Wonne das Echo ausprobierte. Anne und Miss Lavendar setzten sich auf die Steinbank unter der Pappel und unterhielten sich.
»Du gehst also im Herbst fort?«, sagte Miss Lavendar gedankenvoll. »Für dich freut es mich, aber was mich angeht, finde ich es schrecklich schade. Ich werde dich sehr vermissen. Manchmal finde ich es direkt sinnlos, Freundschaften zu schließen. Die Freunde verschwinden nach einer Weile und hinterlassen eine Wunde, die schlimmer ist als die Leere, bevor sie in meinem Leben auftauchten.«
»Das klingt nach Miss Eliza Andrews, nicht nach Miss Lavendar«, sagte Anne. »Nichts ist schlimmer als Leere. Aber ich verschwinde ja nicht aus Ihrem Leben. Es gibt so was wie Briefe und Ferien. Sie sehen blass und müde aus, meine Liebe.«
»Huh ... huuuhh ... huuuhhh«, machte Paul, der auf der Steinmauer saß und fleißig Geräusche machte - nicht sehr melodiöse Geräusche, die aber golden und silberhell widerhallten, verwandelt von den Feen jenseits des Flusses. Miss Lavendar machte mit ihrer hübschen Hand eine ungeduldige Geste.
»Ich bin alles leid, sogar das Echo. Mein ganzes Leben besteht nur aus Echos - Echos vergangener Hoffnungen, Träume und Freuden. Das Echo ist schön und spöttisch. Ach, Anne, ich sollte dir gegenüber nicht so reden. Ich werde eben alt und kann mich nicht damit abfinden. Mit sechzig werde ich unausstehlich sein. Vielleicht brauche ich auch nur eine Pillenkur.«
In dem Augenblick tauchte Charlotta die Vierte, die nach dem Essen verschwunden war, wieder auf und verkündete, dass die Nordostecke von Mr Kimballs Weide über und über rot mit ersten Erdbeeren sei. Ob Miss Shirley nicht Lust hätte, ein paar zu pflücken. »Erdbeeren zum Tee!«, rief Miss Lavendar. »Ich bin doch noch nicht so alt, wie ich dachte. Ach was, Pillen! Mädchen, sammelt Erdbeeren! Wenn ihr zurück seid, trinken wir hier draußen unter der Silberpappel Tee. Ich bereite alles vor. Es gibt selbst geschöpfte Sahne.«
Anne und Charlotta die Vierte gingen zu Mr Kimballs Weide. Die Luft war samtweich, duftete nach Veilchen und leuchtete golden wie Bernstein.
»Wie herrlich frisch es hier ist!«, sagte Anne und sog die Luft ein. »Ich fühle mich, als würde ich im Sonnenschein baden.«
»Ja, Miss, so fühle ich mich auch. Genauso fühle ich mich auch«, stimmte Charlotta die Vierte zu, die genau dasselbe geantwortet hätte, hätte Anne gesagt, sie komme sich vor wie ein Pelikan in der Wüste. Nach jedem ihrer Besuche in Echo Lodge war Charlotta die Vierte in ihr kleines Zimmer über der Küche gegangen und hatte vor dem Spiegel geübt wie Anne zu sprechen, wie sie zu schauen und sich wie sie zu bewegen. Das war ihr nie ganz gelungen. Aber Übung macht den Meister, hatte Charlotta in der Schule gelernt. Sie hoffte inständig, dass sie irgendwann auf den Dreh kam, wie man so zart das Kinn hob, schnell und funkelnd die Augen aufschlug und sich wie ein Zweig im Wind zu bewegen. Wenn man sie so sah, konnte man meinen, es wäre ganz leicht. Charlotta die Vierte bewunderte Anne von ganzem Herzen. Nicht dass sie sie für besonders schön hielt. Diana Barry mit ihren rosigen Wangen und schwarzen Locken gefiel ihr viel besser als Anne mit ihren leuchtend graugrünen Augen und den blassen, ständig die Farbe wechselnden rosa Wangen.
»Aber ich würde lieber so aussehen wie Sie, statt hübsch zu sein«, sagte sie ernst zu Anne.
Anne lachte, genoss das Kompliment wie Honig und warf den Stachel fort. Sie betrachtete Komplimente stets mit gemischten Gefühlen. Man war sich nie einig über ihr Aussehen. Manche, die sie vom Hörensagen für hübsch gehalten hatten, lernten sie kennen und waren enttäuscht. Andere, die sie für unscheinbar gehalten hatten, sahen sie und fragten sich, ob manche Leute keine Augen im Kopf hatten. Anne selbst hielt sich nie für schön. Sah sie in den Spiegel, schaute sie in ein kleines blasses Gesicht mit sieben Sommersprossen auf der Nase. Ihr Spiegel enthüllte ihr nie das schwer bestimmbare Wechselspiel ihrer Gefühle, das wie eine leuchtende Flamme über ihr Gesicht huschte, noch den Reiz ihrer Phantasie und das Lachen, das in ihren großen Augen aufleuchtete.
War Anne streng genommen nicht schön, so besaß sie doch einen gewissen, schwer zu beschreibenden Charme, ein auffallendes Äußeres, eine angenehme Mädchenhaftigkeit, aber zugleich auch eine innere Stärke, was im Betrachter ein Gefühl von Zufriedenheit hinterließ. Annes engste Freunde spürten, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass ihre größte Anziehungskraft in ihrer gestalterischen Kraft lag. Sie verbreitete um sich eine Atmosphäre, in der alles geschehen konnte.