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Anne sprang flink auf und machte sich an die Arbeit. Sie spülte die Teekanne mehrere Male, ehe sie den Tee aufbrühte. Dann wischte sie den Herd ab und deckte den Tisch mit Geschirr, das sie aus der Speisekammer holte. Anne war hell entsetzt über den Zustand der Speisekammer, verlor aber klugerweise kein Wort darüber. Mr Harrison sagte ihr, wo Brot, Butter und eine Dose mit Pfirsichen zu finden waren. Sie stellte einen Strauß Blumen aus dem Garten auf den Tisch und übersah geflissentlich die Flecken auf der Tischdecke. Der Tee war schnell gekocht und Anne saß schließlich Mr Harrison gegenüber, goss ihm Tee ein und plauderte zwanglos mit ihm über die Schule, ihre Freunde und Pläne. Sie konnte es selbst kaum fassen. Mr Harrison hatte Ginger wieder hereingeholt, weil er meinte, der arme Vogel würde sich einsam und verlassen fühlen. Anne, die allen und jedem vergeben konnte, bot ihm eine Walnuss an. Aber Ginger war schwer gekränkt und lehnte jedes Freundschaftsangebot ab. Er hockte verstimmt auf seiner Stange und plusterte die Federn auf, bis er wie eine grüngelbe Kugel aussah.

»Warum nennen Sie ihn Ginger?«, fragte Anne, der treffende Namen gefielen. Aber sie fand, dass Ginger - Ingwer - ganz und gar nicht zu einem so prächtigen Federkleid passte.

»Mein Bruder, der Seemann, hat ihm den Namen gegeben. Ich hänge an diesem Vogel - Sie glauben gar nicht, wie sehr. Natürlich hat er seine Fehler. Ich habe mir seinetwegen schon jede Menge Ärger eingehandelt. Manchen gefällt sein Gefluche nicht, aber er lässt es sich nicht austreiben. Ich habe es versucht, andere haben es versucht. Manche können Papageien nicht ausstehen, albern, nicht wahr? Ich mag Papageien. Ginger leistet mir Gesellschaft. Nichts könnte mich dazu bewegen, diesen Vogel aufzugeben - nichts auf der Welt, Miss.«

Mr Harrison schleuderte Anne diesen Satz regelrecht an den Kopf, so als verdächtige er sie, sie wolle ihn insgeheim dazu bewegen, Ginger aufzugeben. Anne jedoch fand allmählich Gefallen an dem eigensinnigen, kribbeligen Mann, der so viel Getöse machte. Noch ehe sie den Tee ausgetrunken hatten, waren sie gute Freunde. Mr Harrison erkundigte sich nach dem Dorfverschönerungs-Verein und fand den Plan gut.

»Das ist gut. Treiben Sie die Sache voran. Hier gäbe es noch einiges zu verbessern ... bei den Leuten selbst auch.«

»Oh, ich weiß nicht«, sagte Anne schnell. Sich selbst oder ihren allerbesten alten Freunden hätte sie durchaus eingestanden, dass es den einen oder anderen - leicht zu behebenden - Mangel gab, in Avonlea wie auch bei seinen Bewohnern. Aber es sich von jemand sagen lassen zu müssen, der praktisch fremd war, das war etwas völlig anderes. »Ich finde, Avonlea ist ein reizender Ort und seine Bewohner auch.«

»Ich denke, das war wohl nur ein Anflug von Nettigkeit«, bemerkte Mr Harrison und musterte ihre roten Wangen und empört blickenden Augen. »Es muss mit Ihrer Haarfarbe zu tun haben. Avonlea ist ein anständiger Ort, sonst hätte ich mich nicht hier niedergelassen. Aber Sie werden doch wohl zugeben, dass er ein paar Mängel hat?«

»Deshalb gefällt er mir nur umso besser«, sagte Anne, treu wie sie war. »Ich mag weder Orte noch Menschen, die keine Mängel haben. Ein vollkommener Mensch wäre einfach uninteressant. Mrs Milton White sagt, sie hätte noch keinen vollkommenen Menschen kennen gelernt, aber hinlänglich von einem gehört - nämlich der ersten Frau ihres Mannes. Meinen Sie nicht auch, dass es sehr unerfreulich sein muss, mit einem Mann verheiratet zu sein, dessen erste Frau vollkommen war?«

»Noch unerfreulicher wäre es, mit der vollkommenen Frau verheiratet zu sein«, erklärte Mr Harrison unvermittelt und in einem unerklärlich eifrigen Ton.

Als sie mit dem Tee fertig waren, bestand Anne darauf abzuwaschen, obwohl Mr Harrison ihr versicherte, es wäre noch für Wochen genügend Geschirr da. Am liebsten hätte sie auch den Flur gefegt, aber da war weit und breit kein Besen zu sehen und danach fragen mochte sie nicht aus Angst, dass vielleicht gar keiner im Haus war.

»Sie können mich ja ab und zu besuchen kommen«, schlug Mr Harrison vor, als sie aufbrach. »Ist ja nicht weit und als Nachbarn sollte man gut miteinander auskommen. Ich bin irgendwie auch an Ihrem Verein da interessiert. Könnte ja noch ganz heiter werden. Wen wollen Sie sich als Erstes vornehmen?«

»Wir wollen uns nicht mit Leuten befassen, sondern mit dem Ort«, sagte Anne würdevoll. Halb vermutete sie schon, Mr Harrison wollte sich über das Projekt lustig machen.

Als sie sich auf den Weg gemacht hatte, sah Mr Harrison ihr vom Fenster aus nach, wie sie beschwingt im Abendrot über die Felder dahinhüpfte.

»Ich bin ein mürrischer, griesgrämiger, einsamer alter Knabe«, sagte er laut. »Aber das junge Mädchen hat etwas an sich, dass ich mich wieder jung fühle — und das ist ein so angenehmes Gefühl, dass ich es ab und zu gern wieder spüren möchte.«

»Karotte!«, krächzte Ginger spöttisch.

Mr Harrison drohte dem Papagei mit der Faust.

»Du ordinäres Vieh«, brummte er, »ich wünschte fast, ich hätte dir den Hals umgedreht, als mein Bruder dich anschleppte. Musst du mich immer in Verlegenheit bringen?«

Anne lief vergnügt nach Hause und berichtete Marilla von ihrem Erlebnis, die sich ziemliche Sorgen gemacht hatte, weil Anne so lange ausblieb. Sie hatte sich schon auf die Suche nach ihr machen wollen. »Es gibt also doch noch anständige Leute auf dieser Welt, nicht wahr, Marilla?«, beendete Anne glücklich ihren Bericht. »Mrs Lynde hat neulich gejammert, damit wäre es nicht weit her. Sie sagte, immer wenn man sich auf etwas Schönes freue, würde man sowieso enttäuscht, nichts würde den Erwartungen standhalten. Hm, vielleicht hat sie Recht. Aber es gibt auch gute Seiten. Die schlechten Dinge entsprechen auch nicht immer den Erwartungen. Sie erweisen sich meist als weniger schlimm, als man angenommen hat. Ich hatte mich auf eine furchtbar unangenehme Sache eingestellt, als ich mich auf den Weg zu Mr Harrison machte. Dabei war er ganz freundlich, es war fast richtig nett. Ich glaube, wir werden gute Freunde, wenn wir einander etwas entgegenkommen, und alles hat sich zum Besten gekehrt. Aber trotzdem, Marilla, bestimmt werde ich nie wieder eine Kuh verkaufen, bevor ich nicht weiß, wem sie gehört. Und Papageien kann ich doch nicht ausstehen.«

04 - Meinungsverschiedenheiten

Eines Abends bei Sonnenuntergang hielten sich Jane Andrews, Gilbert Blythe und Anne Shirley an einer Hecke im Schatten eines sanft hin und her schwankenden Zweigs einer Fichte auf, wo ein Hohlweg, der so genannte Birkenpfad, zur Hauptstraße führte. Jane hatte den Nachmittag zusammen mit Anne verbracht, die sie ein Stück nach Hause begleitete. Bei der Hecke waren sie auf Gilbert gestoßen. Sie unterhielten sich über den schicksalhaften folgenden Tag. Denn das war der erste September, der Tag, an dem die Schule begann. Jane würde in Newbridge unterrichten, Gilbert in White Sands.

»Ihr seid beide besser dran als ich«, seufzte Anne. »Ihr unterrichtet Kinder, die euch nicht kennen. Ich dagegen muss meine eigenen Schulkameraden unterrichten. Mrs Lynde befürchtet, sie würden mir nicht so viel Respekt erweisen wie einer Fremden, wenn ich nicht von Anfang an hart durchgreife. Aber ich finde das nicht gut. Oh, diese Verantwortung!«

»Wir werden es schon schaffen!«, sagte Jane aufmunternd. Jane schien keine Selbstzweifel zu kennen. Sie wollte rechtschaffen ihr Geld verdienen, ihren Schülern gefallen und sich einen guten Namen auf der Schulinspektor-Ehrenliste machen. Andere Ambitionen hatte Jane nicht. »Hauptsache, man sorgt für Ruhe und Ordnung und dazu muss ein Lehrer schon ein wenig Durchsetzungsvermögen zeigen. Wenn meine Schüler nicht tun, was ich ihnen auftrage, werde ich sie bestrafen.«

»Wie denn?«

»Ihnen eine gehörige Tracht Prügel geben, was sonst?«

»Oh, Jane, das würdest du nicht«, rief Anne entsetzt. »Das kannst du nicht machen, Jane!«