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Beim Erdbeerpflücken vertraute Charlotta die Vierte Anne ihren Kummer wegen Miss Lavendar an. Das warmherzige kleine Dienstmädchen machte sich ernstlich Sorgen um die von ihr bewunderte Frau des Hauses.

»Miss Lavendar geht es nicht gut, Miss Shirley, gar nicht gut. Obwohl sie sich nie beklagt. Das geht jetzt schon eine ganze Weile so, seit Sie und Paul das erste Mal hier waren. An dem Abend hat sie sich eine Erkältung geholt. Als sie beide gegangen waren, war sie noch lange draußen im Dunkeln im Garten. Sie hatte nur ein dünnes Tuch um. Bestimmt hat sie da gefroren. Seitdem wirkt sie lustlos und hat an nichts Interesse. Sie tut auch nicht mehr so, als erwarte sie Besuch. Sie macht sich nicht mehr fein und gar nichts, Miss. Nur wenn Sie kommen, ist sie ein bisschen munterer. Das Schlimmste ist, Miss Shirley«, Charlotta die Vierte senkte die Stimme, als hätte sie höchst seltsame, schlimme Krankheitsanzeichen zu vermelden, »dass sie sich nicht mal aufregt, wenn ich Sachen kaputtmache. Stellen Sie sich vor, Miss Shirley, gestern hab ich ihre grüngelbe Schale zerdeppert, die immer auf dem Bücherregal stand. Ihre Großmutter hat sie ihr aus England mitgebracht. Miss Lavendar war immer ganz heikel damit. Ich hab sie behutsam wie immer abgestaubt, Miss Shirley. Da ist sie mir weggerutscht. Ich konnte sie nicht mehr auffangen, sie zerbrach in tausend Millionen Teile. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid es mir getan hat. Aber ich hatte solche Angst, Miss. Ich dachte, Miss Lavendar würde furchtbar mit mir schimpfen. Das wäre mir immer noch lieber gewesen, als wie sie es dann hinnahm. Sie kam ins Zimmer, schaute kaum hin und sagte: >Macht nichts, Charlotta. Sammle die Scherben auf und wirf sie weg.< Das war alles, Miss Shirley. >Sammle die Scherben auf und wirf sie weg<, so als wäre es gar nicht die Schale, die ihre Großmutter ihr aus England mitgebracht hat. Oh, es geht ihr gar nicht gut und mir ist auch nicht wohl dabei zumute. Wo sie nur mich hat, die sich um sie kümmert.«

Charlotta der Vierten traten Tränen in die Augen. Anne streichelte ihre kleine braune Hand, in der sie die rosa Erdbeerschüssel mit dem Sprung hielt.

»Miss Lavendar würde ein Tapetenwechsel gut tun, Charlotta. Sie ist zu viel allein. Können wir sie nicht dazu überreden, eine kleine Reise zu machen?«

Charlotta mit ihren buschigen Augenbrauen schüttelte unglücklich den Kopf.

»Das glaube ich nicht, Miss Shirley. Miss Lavendar hasst es auf Besuch zu gehen, ln ihrem ganzen Leben hat sie nur drei ihrer Verwandten besucht. Sie sagt, sie tut es nur aus familiärer Verpflichtung. Als sie von ihrem letzten Besuch zurückkam, hat sie gemeint, das wäre das allerletzte Mal gewesen. >Allein zu Hause und sicher unter meinem Dach ist mir immer noch lieber, Charlotta<, sagte sie zu mir. >Meine Verwandten behandeln mich wie eine alte Jungfer, das bekommt mir ganz und gar nicht.< Genau das hat sie gesagt, Miss Shirley. >Das bekommt mir ganz und gar nicht.< Also hätte es wohl keinen Sinn, sie dazu zu überreden.«

»Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen«, sagte Anne entschieden, als sie die letzte Erdbeere, die noch hineinpasste, in die rosa Schüssel legte. »Sobald ich Ferien habe, komme ich für eine Woche her. Wir machen jeden Tag ein Picknick, malen uns alles Mögliche aus und versuchen Miss Lavendar ein wenig aufzuheitern.«

»Das ist es, Miss Shirley«, rief Charlotta die Vierte begeistert. Sie freute sich für Miss Lavendar und auch für sich. Eine ganze Woche, in der sie Anne studieren konnte - da würde sie bestimmt lernen, sich wie sie zu bewegen und zu benehmen.

Als sie nach Echo Lodge zurückkehrten, hatten Miss Lavendar und Paul den kleinen viereckigen Tisch aus der Küche in den Garten gestellt und alles vorbereitet. Nichts hatte je so köstlich geschmeckt wie diese Erdbeeren mit Sahne, die sie unter dem weiten blauen Himmel mit den weichen weißen Wölkchen, den langen Schatten der Bäume und dem Lispeln und Rauschen des Windes aßen. Anschließend half Anne Charlotta in der Küche beim Abwasch, während Miss Lavendar mit Paul auf der Steinbank saß und seinen Geschichten über seine Felsen-Menschen zuhörte. Sie war eine gute Zuhörerin, die liebe Miss Lavendar. Doch dann fiel Paul auf, dass sie sich plötzlich nicht mehr für seine Zwillings-Segler interessierte.

»Miss Lavendar, warum sehen Sie mich so an?«, fragte er ernst.

»Wie sehe ich dich denn an, Paul?«

»So, als würden Sie durch mich durch sehen und als würde ich Sie an jemand erinnern«, sagte Paul, der manchmal so unvermittelt geradezu unheimliche Erkenntnisse hatte, dass man in solchen Augenblicken besser keine Geheimnisse vor ihm hatte.

»Du erinnerst mich an jemand, den ich vor langer Zeit einmal kannte«, sagte Miss Lavendar verträumt.

»Als Sie jung waren?«

»Ja, als ich jung war. Findest du mich sehr alt, Paul?«

»Ich weiß nicht so recht«, sagte Paul vertraulich. »Ihre Haare wirken alt - ich habe noch nie jemand gekannt, der noch so jung war und schon weiße Haare hatte. Aber wenn Sie lachen, sind Ihre Augen so jung wie die von meiner Lehrerin. Wissen Sie was, Miss Lavendar?« Pauls Stimme und Miene waren so ernst wie die eines Richters. »Sie wären bestimmt eine prima Mutter. Ihre Augen haben genau den passenden Ausdruck dafür - wie bei meiner Mutter. Ich finde es schade, dass Sie keine eigenen Jungen haben.«

»Ich habe einen kleinen Traumjungen, Paul.«

»Oh, wirklich? Wie alt ist er?«

»Ungefähr so alt wie du. Eigentlich müsste er schon älter sein, denn ich habe ihn mir erträumt, lange bevor du geboren wurdest. Aber ich lasse ihn nicht älter als elf, zwölf Jahre werden. Sonst wäre er nämlich plötzlich erwachsen und dann würde ich ihn verlieren.«

»Ich verstehe«, nickte Paul. »Das ist das Schöne an Traum-Menschen -sie bleiben so alt, wie man möchte. Sie, meine liebe Lehrerin und ich sind die Einzigen auf der Welt, die ich kenne, die Traum-Menschen haben. Ist es nicht lustig und herrlich, dass wir uns kennen gelernt haben? Aber ich glaube, solche Leute finden zueinander. Großmutter hat keine Traum-Menschen, Mary hält mich wegen meiner Traum-Menschen sogar für nicht ganz richtig im Kopf. Aber mir gefällt es. Sie verstehen schon, Miss Lavendar. Erzählen Sie mir von Ihrem Traumjungen.«

»Er hat blaue Augen und einen Lockenkopf. Er kommt jeden Morgen in mein Zimmer gehuscht und weckt mich mit einem Kuss. Dann spielt er den ganzen Tag hier im Garten und ich spiele mit ihm. Alles Mögliche. Wir machen Wettrennen, reden mit dem Echo und ich erzähle ihm Geschichten. Wenn es dunkel wird ...«

»Ich weiß schon«, unterbrach Paul ungeduldig. »Dann kommt er her und setzt sich neben Sie, so, weil er mit zwölf natürlich viel zu alt ist, um auf Ihren Schoß zu klettern. Er lehnt den Kopf an Ihre Schulter, so. Sie legen den Arm um ihn, halten ihn fest, ganz fest und legen Ihre Wangen an seinen Kopf, ja, genau so. Oh, Sie verstehen das, Miss Lavendar.«

Anne kam aus dem Haus und sah die beiden dort sitzen. Als sie Miss Lavendar betrachtete, tat es ihr Leid, die beiden stören zu müssen. »Ich fürchte, Paul, wir müssen gehen, wenn wir vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein wollen. Miss Lavendar, ich möchte mich demnächst für eine Woche nach Echo Lodge einladen.«

»Ich werde dich zwei dabehalten«, drohte Miss Lavendar.

28 - Der Prinz kehrt zurück in das Zauberschloss

Der letzte Schultag brach an. Die »Halbjahres-Prüfung« wurde abgehalten, bei der Annes Schüler glänzend abschnitten. Bei Schulabschluss überreichte man ihr eine Dankschrift. Alle anwesenden Mädchen und Damen weinten. Einige der Jungen hatten später auch geweint, obwohl sie es abstritten.

Mrs Harmon Andrews, Mrs Peter Sloane und Mrs William Bell gingen zusammen nach Hause und beredeten das Ganze noch einmal.