Mr Irving lächelte ein wenig traurig und sah in Annes junges, erwartungsvolles Gesicht.
»Manchmal kommt der Prinz zu spät«, sagte er. Er hatte Anne nicht gebeten, ihre Bemerkung im Klartext zu wiederholen. Wie alle verwandten Seelen »verstand« er.
»0 nein, nicht wenn der wahre Prinz zur wahren Prinzessin kommt«, sagte Anne und schüttelte entschieden ihren roten Haarschopf, als sie die Wohnzimmertür öffnete. Als er eingetreten war, zog sie die Tür fest hinter ihm zu, drehte sich um und sah sich Charlotta gegenüber, die im Flur stand, mit dem Kopf nickte, Zeichen gab und gewunden lächelte.
»Miss Shirley«, wisperte sie, »ich habe durchs Küchenfenster gelugt - er sieht blendend aus und passt auch vom Alter her genau zu Miss Lavendar. Miss Shirley, meinen Sie, es wäre schlimm, wenn ich an der Tür lausche?«
»Abscheulich, Charlotta«, sagte Anne bestimmt. »Gehen wir, damit du erst gar nicht in Versuchung kommst.«
»Tun kann ich nichts und diese Warterei ist fürchterlich«, seufzte Charlotta. »Angenommen, er macht ihr keinen Heiratsantrag, Miss Shirley? Bei Männern kann man da nie sicher sein. Meine älteste Schwester, Charlotta die Erste, hat mal gedacht, sie wäre mit einem verlobt. Aber er war da ganz anderer Ansicht. Seither traut sie keinem Mann mehr, sagt sie. Dann habe ich noch von einem Fall gehört, wo ein Mann ganz versessen auf ein Mädchen war. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass er die ganze Zeit die Schwester des Mädchens gemeint hatte. Wenn ein Mann nicht weiß, was er will, Miss Shirley, wie kann die arme Frau es dann wissen?«
»Wir gehen in die Küche und putzen die Silberlöffel«, sagte Anne. »Dabei muss man zum Glück nicht denken - denn ich kann heute einfach nicht denken. Und die Zeit vergeht schneller.«
Eine Stunde verging. Als Anne gerade den letzten geputzten Löffel hinlegte, hörten sie, wie die Vordertür zugemacht wurde. Sie sahen einander Trost suchend an.
»Oh, Miss Shirley«, rief Charlotta entsetzt, »wenn er jetzt schon wieder geht, dann wird nie und nimmer etwas daraus.«
Sie stürzten ans Fenster. Mr Irving war gar nicht im Gehen begriffen. Miss Lavendar und er schlenderten gemächlich den mittleren Pfad entlang zur Steinbank.
»Oh, Miss Shirley, er hat ihr den Arm um die Taille gelegt«, flüsterte Charlotta die Vierte entzückt. »Er muss ihr doch einen Antrag gemacht haben, sonst hätte sie das nie erlaubt.«
Anne legte Charlotta der Vierten den Arm um die Taille und tanzte mit ihr durch die Küche, bis beide außer Atem waren.
»Oh, Charlotta«, rief sie fröhlich, »ich bin keine Wahrsagerin und auch nicht die Tochter einer Wahrsagerin und doch prophezeie ich: Noch bevor die Ahornblätter sich rot färben, findet in diesem alten Steinhaus eine Hochzeit statt. Soll ich dir das im Klartext sagen, Charlotta?«
»Nein, das habe ich verstanden«, sagte Charlotta. »Eine Hochzeit ist Klartext. Aber, Miss Shirley, Sie weinen ja! Warum denn?«
»Weil alles so schön ist, so märchenhaft, so romantisch ... und traurig«, sagte Anne und blinzelte, dass die Tränen aus den Augen kullerten. »Es ist wundervoll, aber irgendwie auch ein bisschen traurig.«
»Sicher, eine Heirat ist immer ein Risiko«, räumte Charlotta die Vierte ein. »Aber letzten Endes, Miss Shirley, gibt es viel Schlimmeres.«
29 - Poesie und Klartext
Den folgenden Monat lebte Anne, so hätte man in Avonlea gesagt, in einem Wirbel von Aufregungen. Die Vorbereitungen für ihre bescheidene Ausstattung für Redmond waren zweitrangig. Miss Lavendars Hochzeit stand bevor. Im Steinhaus wurde beraten, geplant und diskutiert. Charlotta die Vierte hielt sich dabei begeistert und staunend lang und breit bei den weniger wichtigen Dingen auf. Dann kam die Schneiderin und sie hatten ihren Spaß - aber auch die Qual der Wahl -, als sie das Kleid aussuchten und anpassten.
Anne und Diana brachten viel Zeit in Echo Lodge zu. So manche Nacht konnte Anne nicht schlafen, weil sie sich fragte, ob es richtig war, Miss Lavendar für die Reise zu einem braunen statt marineblauen Kleid und für die Hochzeit zu dem grausilbernen geraten zu haben.
Alle waren glücklich. Paul Irving kam gleich, nachdem sein Vater ihm die Neuigkeit erzählt hatte, nach Green Gables gerannt, um sie Anne zu berichten.
»Ich wusste doch, dass ich mich auf Vater verlassen kann und er eine nette Stiefmutter für mich aussucht«, sagte er stolz. »Es ist wunderbar einen Vater zu haben, auf den man sich verlassen kann. Miss Lavendar mag ich sehr. Großmutter freut sich auch. Sie ist richtig froh, dass Vater als zweite Frau keine Amerikanerin heiratet, weil, auch wenn es sich beim ersten Mal als ganz gut herausgestellt hat, das noch lange nicht beim zweiten Mal auch so sein muss. Mrs Lynde sagt, sie wäre sehr für die Heirat, weil Miss Lavendar dann bestimmt ihre komischen Ideen aufgibt und normal wird. Ich hoffe das nicht, Miss Shirley. Mir gefallen ihre komischen Ideen. Sie soll nicht normal werden. Normale Leute gibt es schon wie Sand am Meer. Sie verstehen schon.«
Charlotta die Vierte strahlte ebenfalls vor Freude.
»Oh, Miss Shirley, alles hat sich zum Besten gewendet. Wenn Mr Irving und Miss Lavendar von der Hochzeitsreise zurück sind, gehe ich mit ihnen nach Boston. Dabei bin ich erst fünfzehn. Die anderen durften alle erst mit sechzehn nach Boston. Ist Mr Irving nicht großartig? Er vergöttert sie regelrecht. Manchmal, wenn ich sehe, wie er sie anschaut, wird mir ganz schwummerig. Mir fehlen die Worte, Miss Shirley. Wie ich mich freue, dass sie sich so gut leiden können! Letzten Endes ist es so am besten, auch wenn manche da ganz anderer Ansicht sind. Eine meiner Tanten war dreimal verheiratet. Sie sagt, das erste Mal hätte sie aus Liebe geheiratet, die beiden anderen Male aus reinen Vernunftgründen. In allen drei Ehen wäre sie glücklich gewesen, außer bei den Beerdigungen. Aber ein Risiko ist sie schon eingegangen, Miss Shirley.«
»Ist das alles romantisch«, sagte Anne an dem Abend zu Marilla. »Hätte ich damals, als wir zu den Kimballs wollten, den anderen Weg eingeschlagen, hätte ich Miss Lavendar nie kennen gelernt. Hätte ich sie nie kennen gelernt, hätte ich Paul nicht mitgenommen - und der hätte nie seinem Vater, der nach San Francisco fahren wollte, von dem geplanten Besuch bei Miss Lavendar geschrieben. Mr Irving sagt, als er den Brief bekam, hätte er seinen Geschäftspartner nach San Francisco geschickt, er wäre stattdessen hierher gekommen. Seit fünfzehn Jahren hatte er nichts mehr von Miss Lavendar gehört. Jemand hatte ihm erzählt, sie wäre verheiratet. Das hatte er geglaubt und nie mehr nach ihr gefragt. Jetzt hat alles seine Ordnung. Und ich hatte die Hände im Spiel. Vielleicht hat Mrs Lynde Recht, dass alles vorherbestimmt ist und es so kommen musste. Trotzdem, es ist ein schöner Gedanke, dass ich ein Werkzeug der Vorhersehung war. Ja, doch, es ist sehr romantisch.«
»Was ist daran romantisch?«, fragte Marilla ziemlich harsch. Marilla fand, Anne machte viel zu viel Theater darum, vernachlässigte ihre Vorbereitungen für das College und »latschte« stattdessen dauernd nach Echo Lodge, um Miss Lavendar zur Hand zu gehen. »Erst bekommen sich zwei Grünschnäbel in die Haare und sind eingeschnappt. Stephen Irving geht in die Staaten, heiratet dort bald und ist rundum glücklich. Danach stirbt seine Frau. Nach einer angemessenen Zeit kommt er nach Hause und sagt sich, mal sehen, ob meine erste große Liebe mich noch will. Sie hat all die Jahre allein gelebt, weil ihr wohl niemand Nettes über den Weg gelaufen ist. Die beiden treffen sich und heiraten schließlich. Na, was ist daran romantisch?«
»Wenn du es so siehst, ist es nicht romantisch!« Anne schnappte nach Luft, so als hätte ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser übergegossen. »So mag es sich im Klartext anhören. Aber wenn man es poetisch betrachtet - und ich«, Anne fasste sich wieder, machte die Augen auf und wurde rot, »sehe es lieber poetisch.«