»Marilla, und wenn ich versage?«
»An einem einzigen Tag auf ganzer Linie versagen, das geht gar nicht. Und es kommen noch so viele andere Tage«, sagte Marilla. »Dein Problem ist, dass du den Kindern auf einen Schlag alles beibringen und all ihre Schwächen ausmerzen willst. Und wenn dir das nicht gelingt, denkst du, du hättest versagt.«
05 - Die Lehrerin in Amt und Würden
Als Anne in die Schule kam - es war das erste Mal gewesen, dass sie taub und blind für seine Schönheit den Birkenpfad entlanggegangen war waren alle still und friedlich. Die frühere Lehrerin hatte den Kindern eingetrichtert, bei Annes Eintreffen auf ihren Plätzen zu sitzen. Als sie den Klassenraum betrat, sah sie sich geordneten Reihen von strahlenden »Guten-Morgen-Gesichtern« gegenüber und wachen, wissbegierigen Augen. Sie hängte den Hut an den Haken, schaute ihre Schüler an und hoffte, dass sie nicht so verschüchtert und dämlich dreinsah, wie sie sich fühlte, und dass sie ihr nicht anmerkten, wie sie zitterte.
Am Vorabend hatte sie fast bis Mitternacht über einer Rede gesessen, die sie den Schülern zum Schulanfang halten wollte. Sie hatte sie sorgfältig überarbeitet, verbessert und sie dann auswendig gelernt. Es war eine ausgezeichnete Ansprache mit ein paar glänzenden Gedanken, vor allem in puncto gegenseitiger Hilfe und dem ernsthaften Bemühen, etwas dazuzulernen. Das Dumme war nur, dass sie sich jetzt an kein einziges Wort mehr erinnern konnte.
Nach einer Weile, die ihr wie ein Jahr vorkam - in Wirklichkeit waren es nur zehn Sekunden -, sagte sie schwach: »Nehmt bitte die Bibeln zur Hand«, und sank unter dem dann folgenden Rascheln und dem Klappern von Pultdeckeln atemlos in ihren Stuhl. Während die Kinder Verse lasen, ordnete Anne ihre fünf Sinne wieder und ließ ihren Blick von den kleinen zu den größeren Schülern wandern.
Die meisten kannte sie natürlich ganz gut. Ihre eigenen Klassenkameraden hatten im letzten Schuljahr die Schule verlassen, aber alle anderen kannte sie, bis auf die Erstklässler und zehn in Avonlea Neu zugezogene. Anne war insgeheim gespannter auf diese zehn Neuen, weil sie über die Fähigkeiten der anderen schon halbwegs im Bilde war. Sicher, vielleicht waren sie genauso durchschnittlich wie die Übrigen, aber vielleicht war ja doch ein Genie darunter. Dies war ein aufregender Gedanke.
Allein an einem Ecktisch saß Anthony Pye. Er machte ein finsteres, mürrisches Gesicht und sah Anne aus seinen dunklen Augen böse an. Anne beschloss sofort, dass sie die Zuneigung dieses Jungen gewinnen musste, was die Pyes restlos verwirren würde.
In der anderen Ecke neben Arty Sloane saß ein Neuer - ein drollig aussehendes Kerlchen mit einer Stupsnase, Sommersprossen und großen strahlend blauen Augen mit hellen Wimpern - vermutlich der kleine Donnell. Und wenn es so etwas wie Familienähnlichkeit gab, dann musste das drüben in der anderen Reihe neben Mary Bell seine Schwester sein. Anne fragte sich, was das für eine Mutter sein musste, die sie in einem solchen Kleid zur Schule geschickt hatte. Sie trug ein verblichenes, rosafarbenes Seidenkleid mit jeder Menge Baumwollspitze, schmutzige weiße Sandalen und Seidenstrümpfe. Ihr rotblondes Haar war zu unzähligen unnatürlichen Löckchen aufgedreht und mit einer auffallenden rosafarbenen Schleife, die größer als ihr Kopf war, versehen. Sie machte jedoch einen durchaus mit sich zufriedenen Eindruck.
Das blasse kleine Mädchen mit den weichen schulterlangen Locken aus feinem, seidigem, hellbraunem Haar musste Annetta Bell sein, deren Eitern früher im Einzugsbereich der Newbridge-Schule gewohnt hatten, die aber jetzt, nachdem sie um knappe hundert Meter weiter nach Norden gezogen waren, zu Avonlea gehörten. Die drei blassen Mädchen waren bestimmt die Cottons. Und die kleine Schönheit mit den langen braunen Haaren und den haselnussbraunen Augen, die über ihre Bibel hinweg Jack Gillis kokette Blicke zuwarf, musste Prillie Rogerson sein, deren Vater vor kurzem zum zweiten Mal geheiratet hatte und Prillie von der Großmutter in Grafton zu sich nach Hause geholt hatte. Das große linkische Mädchen auf einem der hinteren Plätze, das nicht wusste, wohin mit seinen Füßen und Händen, konnte Anne überhaupt nicht zuordnen. Später stellte sich heraus, dass es sich um Barbara Shaw handelte, die nun bei einer Tante in Avonlea wohnte. Außerdem fand sie heraus, dass, wenn Barbara es je fertig brachte, den Gang entlangzugehen, ohne über ihre eigenen oder anderer Leute Füße zu stolpern, ihre Mitschüler diese ungewöhnliche Tatsache an der Tafel auf der Schulveranda festhielten.
Als sich Annes Blicke mit denen des Jungen vorn in der ersten Reihe trafen, durchfuhr sie ein seltsamer kleiner Schauer, so als hätte sie ihr Genie entdeckt. Das musste Paul Irving sein. Mrs Rachel Lynde hatte zumindest dieses eine Mal Recht gehabt, als sie prophezeite, dass er anders wäre als die Kinder aus Avonlea. Ja, mehr noch, bemerkte Anne, dass er überhaupt ganz anders war als andere Kinder und dass da eine ihr verwandte Seele sie aus dunklen blauen Augen unverwandt musterte.
Sie wusste, dass Paul zehn Jahre alt war, aber er sah höchstens nach acht aus. Er hatte das schönste Gesicht, das sie je bei einem Kind gesehen hatte. Seine Gesichtszüge waren von ausgesprochener Feinheit und Vollkommenheit, umrahmt von kastanienbraunen Locken. Sein Mund war ebenmäßig, die roten Lippen waren groß, berührten einander nur leicht und formten sich zu fein vollendeten Mundwinkeln, wo sich winzige Grübchen bildeten. Er machte einen ruhigen, ernsten und nachdenklichen Eindruck, so als wäre er vom Verstand her seiner körperlichen Entwicklung weit voraus. Aber als Anne ihm leicht zulächelte, verwandelte sich dieser Ausdruck unvermittelt in ein Lachen, das regelrecht wie eine Erleuchtung seines ganzen Wesens wirkte, so als wäre in ihm plötzlich ein Licht entzündet worden und ließe ihn von Kopf bis Fuß erstrahlen. Das Schönste daran war, dass es unwillkürlich geschah und nicht gesteuert war; es war wie das Aufblitzen einer verborgenen Persönlichkeit, eines seltenen, schönen und lieben Menschen. Nachdem sie einander kurz zugelächelt hatten, waren Anne und Paul auf immer Freunde, noch ehe sie überhaupt ein Wort gewechselt hatten.
Der Tag verging wie im Traum. Anne konnte sich später nie in allen Einzelheiten daran erinnern. Ihr kam es vor, als unterrichtete nicht sie selbst, sondern eine andere. Sie erklärte, rechnete und schrieb mechanisch. Die Kinder führten sich ganz ordentlich auf, von zwei Zwischenfällen einmal abgesehen. Morley Andrews erwischte sie dabei, wie er ein Grillenpärchen über den Gang scheuchte. Anne stellte Morley zur Strafe eine Stunde lang nach vorn ans Pult, was Morley nur umso aufgekratzter machte, und beschlagnahmte seine Grillen. Sie legte sie in eine Schachtel und setzte sie auf dem Nachhauseweg im Veilchental aus. Aber Morley war nicht davon abzubringen, dass sie sie mit nach Hause genommen hätte und sie sie zu ihrem eigenen Vergnügen behielt.
Der andere Übeltäter war Anthony Pye, der die letzten paar Tropfen Wasser aus seinem Wasserbehälter Aurelia Clay hinten in den Kragen schüttete. In der Pause rief Anne Anthony zu sich und erklärte ihm, wie ein Gentleman sich zu benehmen hätte, und belehrte ihn, dass er niemals Damen Wasser in den Kragen schütten dürfe. Sie wünsche, dass alle Jungen sich wie Gentlemen aufführten, sagte sie. Ihre Strafpredigt war durchaus freundlich und rührend, aber Anthony ließ sie leider vollkommen ungerührt. Er hörte ihr mit einem mürrischen Gesichtsausdruck schweigend zu und pfiff verächtlich, als er hinausging. Anne seufzte. Dann jedoch rief sie sich zu ihrer Ermunterung ins Gedächtnis, dass, ebenso wie Rom nicht an einem einzigen Tag erbaut worden war, man nicht an einem Tag die Zuwendung eines Pye gewinnen konnte. Und es war zu bezweifeln, ob das bei manchen Pyes überhaupt möglich war. Aber bei Anthony hatte Anne die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vielleicht entpuppte er sich ja als ein ganz netter Bursche, wenn man ihm sein mürrisches Wesen auszutreiben vermochte.