Als die Schule aus war und die Kinder fort waren, sank Anne erschöpft in ihren Stuhl. Der Kopf tat ihr weh und sie fühlte sich jämmerlich entmutigt. Dazu gab es eigentlich gar keinen Grund, denn es war nichts Schlimmes vorgefallen. Aber Anne war sehr müde und glaubte schon fast, dass ihr die Schule nie Spaß machen würde. Wie furchtbar musste es sein, eine Arbeit zu tun, zu der man tagein, tagaus - nun, sagen wir vierzig Jahre lang - keine Lust hatte. Anne schwankte, ob sie auf der Stelle losheulen oder ob sie damit warten sollte, bis sie in ihrem Zimmer zu Hause war. Noch ehe sie einen Entschluss gefasst hatte, hörte sie draußen in der Vorhalle Schritte und das Knistern und Rascheln eines Seidenkleides. Anne sah sich einer Dame gegenüber, deren Erscheinung sie an eine vor kurzem gemachte kritische Bemerkung von Mr Harrison erinnerte, bezüglich eines allzu aufgedonnerten Frauenzimmers, das er in einem Laden in Charlottetown gesehen hätte. »Sie sah aus wie ein Frontalzusammenstoß zwischen einer Modepuppe und einem Schreckgespenst.«
Die Fremde trug ein auffallend hellblaues, seidenes Sommerkleid voller Rüschen und Krausen und hatte einen riesigen weißen Chiffonhut auf, geschmückt mit drei langen, schlanken Straußenfedern. Ein Schleier aus rosafarbenem Chiffon mit vielen großen schwarzen Punkten hing von der Hutkrempe bis auf die Schultern und schwebte wie zwei leichte flatternde Bänder hinterdrein. Sie trug so viel Schmuck, wie an einer einzelnen Frau nur irgend unterzubringen war, und ein strenger Duft nach Parfüm begleitete sie.
»Ich bin Mrs Donnell... Mrs H. B. Donnell«, verkündete sie. »Ich bin hier, um mich bei Ihnen nach etwas zu erkundigen, das mir Clarice Almira erzählte, als sie gestern zum Essen nach Hause kam. Es hat mich unmäßig geärgert.«
»Das tut mir Leid«, stotterte Anne und versuchte vergebens sich an einen morgendlichen Vorfall zu erinnern, in den die Donnell-Kinder verwickelt gewesen wären.
»Clarice Almira hat mir erzählt, Sie würden unseren Namen Donnell aussprechen. Nun, Miss Shirley, die korrekte Aussprache unseres Namens lautet Donnell - die Betonung auf der letzten Silbe. Ich hoffe, dass Sie in Zukunft daran denken.«
»Ich werde mich bemühen«, japste Anne und hätte am liebsten losgelacht. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie unangenehm es ist, wenn der Name falsch geschrieben wird, es muss noch viel schlimmer sein, wenn er falsch ausgesprochen wird.«
»Ja, das ist es. Und Clarice Almira hat mir auch berichtet, dass Sie meinen Sohn Jacob nennen.«
»Er hat es mir selbst so gesagt«, protestierte Anne.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Mrs H. B. Donnell in einem Ton, in dem mitschwang, dass man von Kindern in diesem schlimmen Alter keine Dankbarkeit zu erwarten hatte. »Der Junge hat einen so vulgären Geschmack, Miss Shirley. Eigentlich wollte ich ihn St. Clair nennen - es klingt so aristokratisch, nicht wahr? Aber sein Vater bestand darauf, er soll nach seinem Onkel Jacob heißen. Ich willigte ein, weil Onkel Jacob ein reicher, eingefleischter Junggesselle war. Und was glauben Sie, Miss Shirley? Als unser unschuldiger Junge fünfjahre alt war, ging doch Onkel Jacob tatsächlich hin und heiratete und jetzt hat er selbst drei jungen. Haben Sie je eine solche Undankbarkeit erlebt? Als uns die Einladung zur Hochzeit - er besaß tatsächlich die Unverfrorenheit, uns eine Einladung zu schicken, Miss Shirley - ins Haus schneite, sagte ich: >Schluss mit Jacob, danke bestens!< Von dem Tag an nannte ich meinen Sohn St. Clair und so soll er auch weiterhin genannt werden. Sein Vater nennt ihn hartnäckig weiter Jacob und der Junge selbst hat eine völlig unerklärliche Vorliebe für den gewöhnlichen Namen. Aber sein Name ist St. Clair und dabei soll es auch bleiben. Sie sind doch so nett und denken daran, Miss Shirley, ja? Vielen Dank. Ich habe zu Clarice Almira gesagt, es wäre bestimmt nur ein Missverständnis, das man schnell klären könne. Donnell - mit der Betonung auf der letzten Silbe und St. Clair - auf gar keinen Fall Jacob. Sie denken doch daran? Vielen Dank.«
Als Mrs H. B. Donnell davongerauscht war, schloss Anne die Schultür ab und ging nach Hause. Am Fuße des Hügels beim Birkenpfad traf sie Paul Irving. Er hielt ihr einen Strauß schöner wilder Orchideen entgegen, die die Kinder von Avonlea »Reislilien« nannten.
»Für Sie, Miss Shirley, ich habe sie auf Mr Wrights Feld gepflückt«, sagte er verlegen. »Ich bin noch mal hergekommen und wollte sie Ihnen geben, weil ich dachte, sie würden Ihnen gefallen, und weil...«, er sah mit seinen großen schönen Augen zu ihr hoch, ». . . ich Sie mag.«
»Lieb von dir«, sagte Anne und nahm die duftenden Blumen. So als wären Pauls Worte ein Zauberspruch gewesen, schwanden ihre Entmutigung und Erschöpfung dahin und einer sprudelnden Quelle gleich stieg Hoffnung in ihr auf. Leichtfüßig ging sie den Birkenpfad entlang, begleitet vom süßen Duft der Orchideen.
»Nun, wie ist es dir ergangen?«, wollte Marilla wissen.
»Frage mich das in einem Monat, vielleicht kann ich es dir dann beantworten. Ich kann jetzt... ich weiß es selbst nicht... ich stecke zu sehr darin. Ich war ganz aufgewühlt, alle meine Gedanken waren verschwommen und konfus. Das Einzige, was ich mit Bestimmtheit weiß, ist, dass ich Cliffie Wright beigebracht habe, was ein A ist. Er wusste es nicht. Ist das etwa nichts, eine Menschenseele auf einen Weg geschickt zu haben, der vielleicht zu Shakespeare und dem Verlorenen Paradies< führt?«
Später kam Mrs Lynde vorbei und trug ein Übriges zu Annes Ermutigung bei. Sie hatte die Schulkinder an ihrem Tor abgefangen und sie gefragt, wie sie ihre neue Lehrerin fänden.
»Alle fanden dich prima, Anne, außer Anthony Pye. Er war da ganz anderer Ansicht. Er sagte, du taugst nichts, genau wie alle Lehrerinnen. So sind die Pyes nun mal. Aber mach dir nichts draus.«
»Ich mache mir auch nichts daraus«, sagte Anne ruhig. »Ich werde Anthony Pye schon noch auf meine Seite bringen. Mit Geduld und Freundlichkeit werde ich es schon schaffen.«
»Na ja, bei einem Pye kann man da nie so sicher sein«, sagte Mrs Rachel vorsichtig. »Bei ihnen ist es wie mit Wünschen - sie werden oft nicht wahr. Und was diese Donneil angeht, ich werde sie nicht Donnell nennen, das kann ich dir aber sagen. Der Name heißt Donnell und hat immer so geheißen. Die Frau ist verrückt, jawohl. Sie hat einen Mops namens Queenie und der sitzt beim Essen mit am Tisch und isst von einem Teller. Ich an ihrer Stelle würde mich das nicht getrauen. Thomas sagst, Mr Donnell wäre ein vernünftiger und hart arbeitender Mann, aber als er sich eine Frau gesucht hat, hat er nicht gerade gesunden Menschenverstand bewiesen, jawohl!«
06 - Menschen aller Art
Ein Tag im September auf den Hügeln der Prince Edward Island: Vom Meer her weht ein frischer Wind über die Sanddünen; die lange rote Straße schlängelt sich durch Felder und Wälder, führt bald in einer Biegung an einem Fichtenwald vorbei, windet sich durch eine Anpflanzungjunger Ahornbäume, unter denen gefiederter Farn wächst, taucht dann in eine Senke hinab, wo plötzlich ein Bach auftaucht und wieder im Wald verschwindet, und liegt schließlich zwischen Goldruten und rauchblauen Astern im hellen Sonnenlicht da. Die Luft sirrt vom Gezirpe von Myriaden von Grillen, den zufriedenen kleinen Sommergästen auf den Hügeln; ein behäbiges braunes Pferd trottet gemächlich den Weg entlang; zwei Mädchen folgen ihm, erfüllt von den einfachen, unschätzbaren Freuden der Jugend und des Lebens. »Ach, dies ist ein Tag wie im Paradies, nicht wahr, Diana?«, seufzte Anne vor purem Glück. »Ein Zauber liegt in der Luft. Sieh einmal das Purpur in der Mulde dort im Tal, Diana. Und riechst du den Duft der harzigen Tannen? Er dringt von der kleinen sonnigen Senke herauf, wo Mr Eben Wright Zaunpfähle zurechtgeschnitten hat. Glück heißt einen solchen Tag erleben zu dürfen, aber den Duft harziger Tannen zu genießen bedeutet den Himmel. Das stammt zu zwei Dritteln von Wordsworth und zu einem Drittel von Anne Shirley. Im Himmel wird es wohl keine harzigen Tannen geben, nicht wahr? Aber der Himmel wäre nicht vollkommen, könnte man nicht einen Hauch von diesem Duft riechen, wenn man durch die Himmelswälder streift. Ja, ich glaube, so muss es sein. Der herrliche Duft ist die Seele der Tannen -im Himmel gibt es natürlich nur Seelen.«