Выбрать главу

»Wonach denn?« fragte sie leise, und ich fiel auf die plötzlich wieder so sanfte Stimme herein.

»Sie riecht nach Bonn«, sagte ich, »nach dem Kreis, nach Sommerwild und Züpfner — und wie sie alle heißen.«

»Vielleicht«, sagte sie, ohne sich umzudrehen, »bilden deine Ohren sich ein, gehört zu haben, was deine Augen gesehen haben.«

»Ich versteh dich nicht«, sagte ich müde, »was meinst du.«

»Ach«, sagte sie, »als ob du nicht wüßtest, daß hier Katholikentag ist.«

»Ich hab die Plakate gesehen«, sagte ich. »Und daß Heribert und Prälat Sommerwild hier sein könnten, ist dir nicht in den Sinn gekommen?« Ich hatte nicht gewußt, daß Züpfner mit Vornamen Heribert hieß. Als sie den Namen nannte, fiel mir ein, daß nur er gemeint sein konnte. Ich dachte wieder an das Händchenhalten. Mir war schon aufgefallen, daß in Hannover viel mehr katholische Priester und Nonnen zu sehen waren als zu der Stadt zu passen schien, aber ich hatte nicht daran gedacht, daß Marie hier jemand treffen könnte, und selbst wenn — wir waren ja manchmal, wenn ich ein paar Tage frei hatte, nach Bonn gefahren, und sie hatte den ganzen »Kreis« ausgiebig genießen können.

»Hier im Hotel?« fragte ich müde.

»Ja«, sagte sie.

»Warum hast du mich nicht mit ihnen zusammengebracht?«

»Du warst ja kaum hier«, sagte sie, »eine Woche lang immer unterwegs — Braunschweig, Hildesheim, Celle...«

»Aber jetzt habe ich Zeit«, sagte ich, »ruf sie an, und wir trinken noch was unten in der Bar.«

»Sie sind weg«, sagte sie, »heute nachmittag gefahren.«

»Es freut mich«, sagte ich, »daß du so lange und ausgiebig >katholische Luft< hast atmen können, wenn auch importierte.« Das war nicht mein, sondern ihr Ausdruck. Manchmal hatte sie gesagt, sie müsse mal wieder katholische Luft atmen.

»Warum bist du böse«, sagte sie; sie stand immer noch mit dem Gesicht zur Straße, rauchte schon wieder, und auch das war mir fremd an ihr: dieses hastige Rauchen, es war mir so fremd wie die Art, in der sie mit mir sprach. In diesem Augenblick hätte sie Irgendeine sein können, eine Hübsche, nicht sehr Intelligente, die irgendeinen Vorwand suchte, um zu gehen.

»Ich bin nicht böse«, sagte ich, »du weißt es. Sag mir nur, daß du's weißt.«

Sie sagte nichts, nickte aber, und ich konnte genug von ihrem Gesicht sehen, um zu wissen, daß sie die Tränen zurückhielt. Warum? Sie hätte weinen sollen, heftig und lange. Dann hätte ich aufstehen, sie in den Arm nehmen und küssen können. Ich tat es nicht. Ich hatte keine Lust, und nur aus Routine oder Pflicht wollte ich's nicht tun. Ich blieb liegen. Ich dachte an Züpfner und Sommerwild, daß sie drei Tage lang mit denen hier herumgeredet hatte, ohne mir etwas davon zu erzählen. Sie hatten sicherlich über mich gesprochen. Züpfner gehört zum Dachverband katholischer Laien. Ich zögerte zu lange, eine Minute, eine halbe oder zwei, ich weiß nicht. Als ich dann aufstand und zu ihr ging, schüttelte sie den Kopf, schob meine Hände von ihrer Schulter weg und fing wieder an zu reden, von ihrem metaphysischen Schrecken und von Ordnungsprinzipien, und ich kam mir vor, als wäre ich schon zwanzig Jahre lang mit ihr verheiratet. Ihre Stimme hatte einen erzieherischen Ton, ich war zu müde, ihre Argumente aufzufangen, sie flogen an mir vorbei. Ich unterbrach sie und erzählte ihr von dem Reinfall, den ich im Varieté erlebt hatte, dem ersten seit drei Jahren. Wir standen nebeneinander am Fenster, blickten auf die Straße hinunter, wo dauernd Taxis vorfuhren, die katholische Komiteemitglieder zum Bahnhof brachten: Nonnen, Priester und seriös wirkende Laien. In einer Gruppe erkannte ich Schnitzler, er hielt einer sehr fein aussehenden alten Nonne die Taxitür auf. Als er bei uns wohnte, war er evangelisch. Er mußte entweder konvertiert sein oder als evangelischer Beobachter hier gewesen sein. Ihm war alles zuzutrauen. Unten wurden Koffer geschleppt und Trinkgelder in Hoteldienerhände gedrückt. Mir drehte sich vor Müdigkeit und Verwirrung alles vor den Augen: Taxis und Nonnen, Lichter und Koffer, und ich hatte dauernd den mörderisch müden Applaus im Ohr. Marie hatte längst ihren Monolog über die Ordnungsprinzipien abgebrochen, sie rauchte auch nicht mehr, und als ich vom Fenster zurücktrat, kam sie mir nach, faßte mich an der Schulter und küßte mich auf die Augen. »Du bist so lieb«, sagte sie »so lieb und so müde«, aber als ich sie umarmen wollte, sagte sie leise: »Bitte, bitte, nicht«, und es war falsch von mir, daß ich sie wirklich losließ. Ich warf mich in den Kleidern aufs Bett, schlief sofort ein, und als ich am Morgen wach wurde, war ich nicht erstaunt darüber, daß Marie gegangen war. Ich fand den Zettel auf dem Tisch: »Ich muß den Weg gehen, den ich gehen muß.« Sie war fast fünfundzwanzig, und es hätte ihr etwas Besseres einfallen müssen. Ich nahm es ihr nicht übel, es kam mir nur ein bißchen wenig vor. Ich setzte mich sofort hin und schrieb ihr einen langen Brief, nach dem Frühstück noch einen, ich schrieb ihr jeden Tag und schickte die Briefe alle an Fredebeuls Adresse nach Bonn, aber ich bekam nie Antwort.

9

Es dauerte auch bei Fredebeul lange, bis jemand an den Apparat kam; das dauernde Tuten machte mich nervös, ich stellte mir vor, daß Frau Fredebeul schlief, von dem Tuten geweckt wurde, wieder einschlief, wieder geweckt wurde, und ich durchlitt alle Qualen ihrer von diesem Anruf betroffenen Ohren. Ich war drauf und dran, wieder aufzulegen, gestand mir aber eine Art Notstand zu und ließ es weiterklingeln. Fredebeul selbst aus tiefem Schlaf zu wecken, hätte mich nicht im geringsten gequält: dieser Bursche hat keinen ruhigen Schlaf verdient; er ist krankhaft ehrgeizig, hat wahrscheinlich immer die Hand auf dem Telefon liegen, um anzurufen oder Anrufe anzunehmen, von Ministerialdirektoren, Redakteuren, Zentralkomitees, Dachverbänden und von der Partei. Seine Frau habe ich gern. Sie war noch Schülerin, als er sie zum erstenmal mit in den Kreis brachte, und die Art, wie sie da saß, mit ihren hübschen Augen den theologisch-soziologischen Auseinandersetzungen folgte, machte mich ganz elend. Ich sah ihr an, daß sie viel lieber tanzen oder ins Kino gegangen wäre. Sommerwild, bei dem diese Zusammenkunft stattfand, fragte mich dauernd: Ist Ihnen zu heiß, Schnier, und ich sagte: Nein, Prälat, obwohl mir der Schweiß von Stirn und Wangen lief. Ich ging schließlich auf Sommerwilds Balkon, weil ich das Gerede nicht mehr ertragen konnte. Sie selbst hatte das ganze Palaver ausgelöst, weil sie — übrigens vollkommen außer dem Zusammenhang des Gesprächs, das eigentlich über Größe und Grenzen des Provinzialismus ging — gesagt hatte, sie fände einiges, was Benn geschrieben hätte, doch »ganz hübsch«. Daraufhin wurde Fredebeul, als dessen Verlobte sie galt, knallrot, denn Kinkel warf ihm einen seiner berühmten sprechenden Blicke zu: »Wie, das hast du noch nicht bei ihr in Ordnung gebracht?« Er brachte es also selbst in Ordnung und schreinerte das arme Mädchen zurecht, indem er das ganze Abendland als Hobel ansetzte. Es blieb fast nichts von dem netten Mädchen übrig, die Späne flogen, und ich ärgerte mich über diesen Feigling Fredebeul, der nicht eingriff, weil er mit Kinkel auf eine bestimmte ideologische Linie »verschworen« ist, ich weiß jetzt gar nicht mehr, ob links oder rechts, jedenfalls haben sie ihre Linie, und Kinkel fühlte sich moralisch verpflichtet, Fredebeuls Braut auszurichten. Auch Sommerwild rührte sich nicht, obwohl er die Kinkel und Fredebeul entgegengesetzte Linie vertritt, ich weiß nicht welche: wenn Kinkel und Fredebeul links sind, ist Sommerwild rechts, oder umgekehrt. Auch Marie war ein bißchen blaß geworden, aber ihr imponiert Bildung — das habe ich ihr nie ausreden können —, und Kinkels Bildung imponierte auch der späteren Frau Fredebeuclass="underline" sie nahm mit fast schon unzüchtigen Seufzern die wortstarke Belehrung hin: Das ging von den Kirchenvätern bis Brecht wie ein Unwetter nieder, und als ich erfrischt vom Balkon zurückkam, saßen alle vollkommen erschossen da, tranken Bowle — und das ganze nur, weil das arme Ding gesagt hatte, sie fände einiges von Benn »ganz hübsch«. Jetzt hat sie schon zwei Kinder von Fredebeul, ist kaum zweiundzwanzig, und während das Telefon immer noch in ihrer Wohnung klingelte, stellte ich mir vor, wie sie irgendwo mit Babyflaschen, Puderdosen, Windeln und Cremes herumhantierte, vollkommen hilflos und konfus, und ich dachte an die Berge von schmutziger Babywäsche und das ungespülte, fettige Geschirr in ihrer Küche. Ich hatte ihr einmal, als mir die Unterhaltung zu anstrengend wurde, geholfen, Toast zu rösten, Schnittchen zu machen und Kaffee zu kochen, Arbeiten, von denen ich nur sagen kann, daß sie mir weniger widerwärtig sind als gewisse Formen der Unterhaltung.

Eine sehr zaghafte Stimme sagte: »Ja, bitte?« und ich konnte aus dieser Stimme heraushören, daß es in Küche, Badezimmer und Schlafzimmer hoffnungsloser aussah als je. Riechen konnte ich diesmal fast nichts: nur, daß sie eine Zigarette in der Hand haben mußte. »Schnier«, sagte ich, und ich hatte einen Ausruf der Freude erwartet, wie sie ihn immer tut, wenn ich sie anrufe. Ach, Sie in Bonn — wie nett — oder ähnlich, aber sie schwieg verlegen, sagte dann schwach: »Ach, nett.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Früher hatte sie immer gesagt: »Wann kommen Sie noch einmal und fuhren uns was vor?« Kein Wort. Es war mir peinlich, nicht meinet-, mehr ihretwegen, meinetwegen war es nur deprimierend, ihretwegen war es peinlich. »Die Briefe«, sagte ich schließlich mühsam, »die Briefe, die ich Marie an Ihre Adresse schickte?«