Mir war so elend wie Marie, als wir mit der letzten Bahn nach Köln zurückfuhren. Wir hatten das Geld für die Fahrt zusammengekratzt, weil Marie soviel daran gelegen hatte, die Einladung anzunehmen. Es war uns auch körperlich übel, wir hatten zu wenig gegessen und mehr getrunken, als wir gewohnt waren. Die Fahrt kam uns endlos lang vor, und als wir in Köln-West ausstiegen, mußten wir zu Fuß nach Hause gehen. Wir hatten kein Fahrgeld mehr.
Bei Kinkel kam sofort jemand ans Telefon. »Alfred Kinkel hier«, sagte eine selbstbewußte Jungenstimme.
»Schnier«, sagte ich, »könnte ich Ihren Vater sprechen?«
»Schnier, der Theologe oder Schnier, der Clown?«
»Der Clown«, sagte ich.
»Ach«, sagte er, »ich hoffe, Sie nehmen es nicht zu schwer?«
»Schwer?« sagte ich müde, »was soll ich nicht zu schwer nehmen?«
»Was?« sagte er, »Sie haben die Zeitung nicht gelesen?«
»Welche?« sagte ich.
»Die Stimme Bonns«, sagte er.
»Ein Verriß?« fragte ich.
»Oh«, sagte er, »ich glaube, das ist schon eher eine Todesanzeige. Soll ichs Ihnen mal holen und vorlesen?«
»Nein, danke«, sagte ich. Dieser Junge hatte einen hübsch sadistischen Unterton in der Stimme.
»Aber Sie sollten sichs anschauen«, sagte er, »um daraus zu lernen.« Mein Gott, pädagogische Ambitionen hatte er auch noch.
»Wer hats denn geschrieben?« sagte ich.
»Ein gewisser Kostert, der als unser Korrespondent im Ruhrgebiet bezeichnet wird. Glänzend geschrieben, aber ziemlich gemein.«
»Nun ja«, sagte ich, »er ist ja auch ein Christ.«
»Sie etwa nicht?«
»Nein«, sagte ich, »Ihr Vater ist wohl nicht zu sprechen?«
»Er will nicht gestört werden, aber für Sie störe ich ihn gerne.«
Es war das erstemal, daß Sadismus mir nützlich wurde.
»Danke«, sagte ich.
Ich hörte, wie er den Hörer auf den Tisch legte, durchs Zimmer ging, und wieder hörte ich im Hintergrund dieses böse Zischen. Es hörte sich an, als wäre eine ganze Schlangenfamilie miteinander in Streit geraten: zwei männliche Schlangen und eine weibliche. Es ist mir immer peinlich, wenn ich Augen- oder Ohrenzeuge von Vorgängen werde, die nicht für mein Auge oder Ohr bestimmt sind, und die mystische Begabung, durchs Telefon Gerüche wahrzunehmen, ist keineswegs eine Freude, sondern eine Last. Es roch in der Kinkelschen Wohnung nach Fleischbrühe, als hätten sie einen ganzen Ochsen gekocht. Das Gezische im Hintergrund klang lebensgefährlich, als würde der Sohn den Vater oder die Mutter den Sohn umbringen. Ich dachte an Laokoon, und daß dieses Gezische und Gekeife — ich konnte sogar Geräusche eines Handgemenges hören, Aus und Ahs, Ausrufe wie »du ekelhaftes Biest«, »du brutales Schwein« — in der Wohnung dessen stattfand, der als die »graue Eminenz des deutschen Katholizismus« bezeichnet wurde, trug nicht zu meiner Erheiterung bei. Ich dachte auch an den miesen Kostert in Bochum, der sich noch gestern abend ans Telefon gehängt und seinen Text durchtelefoniert haben mußte, und doch hatte er heute morgen an meiner Zimmertür wie ein demütiger Köter gekratzt und den christlichen Bruder gespielt.
Kinkel sträubte sich offenbar buchstäblich mit Händen und Füßen, ans Telefon zu kommen, und seine Frau — ich konnte die Geräusche und Bewegungen im Hintergrund allmählich entziffern — war noch heftiger dagegen als er, während der Sohn sich weigerte, mir zu sagen, er habe sich getäuscht, sein Vater sei nicht zu Hause. Plötzlich wurde es vollkommen still, so still wie es ist, wenn jemand verblutet, wirklich: es war eine verblutende Stille. Dann hörte ich schleppende Schritte, hörte, wie einer den Hörer vom Tisch nahm, und rechnete damit, daß der Hörer aufgelegt würde. Ich wußte noch genau, wo das Telefon in Kinkels Wohnung steht. Genau unter der von drei Barockmadonnen, die Kinkel immer als die minderwertigste bezeichnet. Mir wäre fast lieber gewesen, er hätte aufgelegt. Ich hatte Mitleid mit ihm, es mußte fürchterlich für ihn sein, jetzt mit mir zu sprechen, und für mich selbst erhoffte ich nichts von diesem Gespräch, weder Geld noch guten Rat. Wäre seine Stimme außer Atem gewesen, hätte mein Mitleid überwogen, aber seine Stimme war so dröhnend und vital wie je. Jemand hat mal seine Stimme mit einem ganzen Trompeterkorps verglichen. »Hallo, Schnier«, dröhnte es mir entgegen, »reizend, daß Sie anrufen.«