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Henriette sah wirklich aus, als mache sie einen Schulausflug. Denen war alles zuzutrauen. Manchmal, wenn wir zwischen den Alarmen in unserem Klassenraum saßen, hörten wir durchs offene Fenster richtige Gewehrschüsse, und wenn wir erschrocken zum Fenster hinblickten, fragte der Lehrer Brühl uns, ob wir wüßten, was das bedeute. Wir wußten es inzwischen: es war wieder ein Deserteur oben im Wald erschossen worden. »So wird es allen gehen«, sagte Brühl, »die sich weigern, unsere heilige deutsche Erde gegen die jüdischen Yankees zu verteidigen.« (Vor kurzem traf ich ihn noch einmal, er ist jetzt alt, weißhaarig, Professor an einer Pädagogischen Akademie und gilt als ein Mann mit »tapferer politischer Vergangenheit«, weil er nie in der Partei war.)

Ich winkte noch einmal hinter der Straßenbahn her, in der Henriette davonfuhr, ging durch unseren Park nach Hause, wo meine Eltern mit Leo schon bei Tisch saßen. Es gab Brennsuppe, als Hauptgericht Kartoffeln mit Soße und zum Nachtisch einen Apfel. Erst beim Nachtisch fragte ich meine Mutter, wohin denn Henriettes Schulausflug führe. Sie lachte ein bißchen und sagte: »Ausflug. Unsinn. Sie ist nach Bonn gefahren, um sich bei der Flak zu melden. Schäle den Apfel nicht so dick. Junge, sieh mal hier«, sie nahm tatsächlich die Apfelschalen von meinem Teller, schnippelte daran herum und steckte die Ergebnisse ihrer Sparsamkeit, hauchdünne Apfelscheiben, in den Mund. Ich sah Vater an. Er blickte auf seinen Teller und sagte nichts. Auch Leo schwieg, aber als ich meine Mutter noch einmal ansah, sagte sie mit ihrer sanften Stimme: »Du wirst doch einsehen, daß jeder das Seinige tun muß, die jüdischen Yankees von unserer heiligen deutschen Erde wieder zu vertreiben.« Sie warf mir einen Blick zu, mir wurde unheimlich, sie sah dann Leo mit dem gleichen Blick an, und es schien mir, als sei sie drauf und dran, auch uns beide gegen die jüdischen Yankees zu Felde zu schicken. »Unsere heilige deutsche Erde«, sagte sie, »und sie sind schon tief in der Eifel drin.« Mir war zum Lachen zumute, aber ich brach in Tränen aus, warf mein Obstmesser hin und lief auf mein Zimmer. Ich hatte Angst, wußte sogar warum, hätte es aber nicht ausdrücken können, und ich wurde rasend, als ich an die verfluchten Apfelschalen dachte. Ich blickte auf die mit dreckigem Schnee bedeckte deutsche Erde in unserem Garten, zum Rhein, über die Trauerweiden hinweg aufs Siebengebirge, und diese ganze Szenerie kam mir idiotisch vor. Ich hatte ein paar von diesen »jüdischen Yankees« gesehen: auf einem Lastwagen wurden sie vom Venusberg runter nach Bonn zu einer Sammelstelle gebracht: sie sahen verfroren aus, ängstlich und jung; wenn ich mir unter Juden überhaupt etwas vorstellen konnte, dann eher etwas wie die Italiener, die noch verfrorener als die Amerikaner aussahen, viel zu müde, um noch ängstlich zu sein. Ich trat gegen den Stuhl, der vor meinem Bett stand, und als er nicht umfiel, trat ich noch einmal dagegen. Er kippte endlich und schlug die Glasplatte auf meinem Nachttisch in Stücke. Henriette mit blauem Hut und Rucksack. Sie kam nie mehr zurück, und wir wissen bis heute nicht, wo sie beerdigt ist. Irgendjemand kam nach Kriegsende zu uns und meldete, daß sie »bei Leverkusen gefallen« sei.

Diese Besorgnis um die heilige deutsche Erde ist auf eine interessante Weise komisch, wenn ich mir vorstelle, daß ein hübscher Teil der Braunkohlenaktien sich seit zwei Generationen in den Händen unserer Familie befindet. Seit siebzig Jahren verdienen die Schniers an den Wühlarbeiten, die die heilige deutsche Erde erdulden muß: Dörfer, Wälder, Schlösser fallen vor den Baggern wie die Mauern Jerichos.

Erst ein paar Tage später erfuhr ich, wer auf die »jüdischen Yankees« Urheberrecht hätte anmelden können: Herbert Kalick, damals vierzehn, mein Jungvolkführer, dem meine Mutter großzügigerweise unseren Park zur Verfügung stellte, auf daß wir alle in der Handhabung von Panzerfäusten ausgebildet würden. Mein achtjähriger Bruder Leo machte mit, ich sah ihn mit einer Übungspanzerfaust auf der Schulter am Tennisplatz vorbeimarschieren, im Gesicht einen Ernst, wie ihn nur Kinder haben können. Ich hielt ihn an und fragte ihn: »Was machst du da?« Und er sagte mit todernstem Gesicht: »Ich werde ein Werwolf, du vielleicht nicht?« »Doch«, sagte ich und ging mit ihm am Tennisplatz vorbei zum Schießstand, wo Herbert Kalick gerade die Geschichte von dem Jungen erzählte, der mit zehn schon das Eiserne Kreuz erster Klasse bekommen hatte, irgendwo im fernen Schlesien, wo er mit Panzerfäusten drei russische Panzer erledigt hatte. Als einer der Jungen fragte, wie dieser Held geheißen habe, sagte ich: »Rübezahl«. Herbert Kalick wurde ganz gelb im Gesicht und schrie: »Du schmutziger Defätist.« Ich bückte mich und warf Herbert eine Handvoll Asche ins Gesicht. Sie fielen alle über mich her, nur Leo verhielt sich neutral, weinte, half mir aber nicht, und in meiner Angst schrie ich Herbert ins Gesicht: »Du Nazischwein.« Ich hatte das Wort irgendwo gelesen, an einem Bahnübergang auf die Schranke geschrieben. Ich wußte gar nicht genau, was es bedeutete, hatte aber das Gefühl, es könne hier angebracht sein. Herbert Kalick brach sofort die Schlägerei ab und wurde amtlich: er verhaftete mich, ich wurde im Schießstandschuppen zwischen Schießscheiben und Anzeigestöcken eingesperrt, bis Herbert meine Eltern, den Lehrer Brühl und einen Parteimenschen zusammengetrommelt hatte. Ich heulte vor Wut, zertrampelte die Schießscheiben und schrie den Jungen draußen, die mich bewachten, immer wieder zu: »Ihr Nazischweine«. Nach einer Stunde wurde ich in unser Wohnzimmer zum Verhör geschleppt. Der Lehrer Brühl war kaum zu halten. Er sagte immer wieder: »Mit Stumpf und Stiel ausrotten, ausrotten mit Stumpf und Stiel«, und ich weiß bis heute nicht genau, ob er das körperlich oder sozusagen geistig meinte. Ich werde ihm demnächst an die Adresse der Pädagogischen Hochschule schreiben und ihn um der historischen Wahrheit willen um Aufklärung bitten. Der Parteimensch, der stellvertretende Ortsgruppenleiter Lövenich, war ganz vernünftig. Er sagte immer: »Bedenken Sie doch, der Junge ist noch keine elf«, und weil er fast beruhigend auf mich wirkte, beantwortete ich sogar seine Frage, woher ich das ominöse Wort kenne: »Ich habe es gelesen, auf der Bahnschranke an der Annaberger Straße.« »Es hat Dir nicht jemand gesagt«, fragte er, »ich meine, du hast es nicht gehört, mündlich?« »Nein«, sagte ich. »Der Junge weiß ja gar nicht, was er sagt«, sagte mein Vater und legte mir die Hand auf die Schulter. Brühl warf meinem Vater einen bösen Blick zu, blickte dann ängstlich zu Herbert Kalick. Offenbar galt Vaters Geste als gar zu arge Sympathiekundgebung. Meine Mutter sagte weinend mit ihrer sanften, dummen Stimme: »Er weiß ja nicht, was er tut, er weiß es nicht — ich müßte ja sonst meine Hand von ihm zurückziehen.« — »Zieh sie nur zurück«, sagte ich. Alles das spielte sich in unserem Riesenwohnzimmer ab mit den pompösen, dunkel gebeizten Eichenmöbeln, mit Großvaters Jagdtrophäen oben auf dem breiten Eichenbord, Humpen, und den schweren, bleiverglasten Bücherschränken. Ich hörte die Artillerie oben in der Eifel, kaum zwanzig Kilometer entfernt, manchmal sogar ein Maschinengewehr. Herbert Kalick, blaß, blond, mit seinem fanatischen Gesicht, als eine Art Staatsanwalt fungierend, schlug dauernd mit den Knöcheln auf die Anrichte und forderte: »Härte, Härte, unnachgiebige Härte.« Ich wurde dazu verurteilt, unter Herberts Aufsicht im Garten einen Panzergraben auszuwerfen, und noch am Nachmittag wühlte ich, der Schnierschen Tradition folgend, die deutsche Erde auf, wenn auch — was der Schnierschen Tradition widersprach — eigenhändig. Ich grub den Graben quer durch Großvaters Lieblingsrosenbeet, genau auf die Kopie des Apoll von Belvedere zu, und ich freute mich schon auf den Augenblick, wo die Marmorstatue meinem Wühleifer erliegen würde; ich freute mich zu früh; sie wurde von einem kleinen sommersprossigen Jungen erlegt, der Georg hieß. Er sprengte sich selbst und den Apoll in die Luft durch eine Panzerfaust, die er irrtümlich zur Explosion brachte. Herbert Kalicks Kommentar zu diesem Unfall war lakonisch. »Zum Glück war Georg ja ein Waisenkind.«

5

Ich suchte im Telefonbuch die Nummern aller Leute zusammen, mit denen ich würde sprechen müssen; links schrieb ich untereinander die Namen derer, die ich anpumpen konnte: Karl Emonds, Heinrich Behlen, beides Schulkameraden, der eine ehemals Theologiestudent, jetzt Studienrat, der andere Kaplan, dann Bela Brosen, die Geliebte meines Vaters — rechts untereinander die übrigen, die ich nur im äußersten Fall um Geld bitten würde: meine Eltern, Leo (den ich um Geld bitten konnte, aber er hat nie welches, er gibt alles her), die Kreismitglieder: Kinkel, Fredebeul, Blothert, Sommerwild, zwischen diesen beiden Namensäulen: Monika Silvs, um deren Namen ich eine hübsche Schleife malte. Karl Emonds mußte ich ein Telegramm schicken und ihn um einen Anruf bitten. Er hat kein Telefon. Ich hätte Monika gern als erste angerufen, würde sie aber als letzte anrufen müssen: Unser Verhältnis zueinander ist in einem Stadium, wo es sowohl physisch wie metaphysisch unhöflich wäre, wenn ich sie verschmähte. Ich war in diesem Punkt in einer fürchterlichen Situation: monogam, lebte ich wider Willen und doch naturgemäß zölibatär, seitdem Marie in »metaphysischem Schrecken«, wie sie es nannte, von mir geflohen ist. Tatsächlich war ich in Bochum mehr oder weniger absichtlich ausgerutscht, hatte mich aufs Knie fallen lassen, um die begonnene Tournee abbrechen und nach Bonn fahren zu können. Ich litt auf eine kaum noch erträgliche Weise unter dem, was in Maries religiösen Büchern irrtümlich als »fleischliches Verlangen« bezeichnet wird. Ich hatte Monika viel zu gern, um mit ihr das Verlangen nach einer anderen Frau zu stillen. Wenn in diesen religiösen Büchern stünde: Verlangen nach einer Frau, so wäre das schon grob genug, aber einige Stufen besser als »fleischliches Verlangen«. Ich kenne nichts Fleischliches außer Metzgerläden, und selbst die sind nicht ganz fleischlich. Wenn ich mir vorstelle, daß Marie diese Sache, die sie nur mit mir tun sollte, mit Züpfner macht, steigert sich meine Melancholie zur Verzweiflung. Ich zögerte lange, bevor ich auch Züpfners Telefonnummer heraussuchte und unter die Kolonne derjenigen schrieb, die ich nicht anzupumpen gedachte. Marie würde mir Geld geben, sofort, alles, was sie besaß, und sie würde zu mir kommen und mir beistehen, besonders, wenn sie erführe, welche Serie von Mißerfolgen mir beschieden gewesen ist, aber sie würde nicht ohne Begleitung kommen. Sechs Jahre sind eine lange Zeit, und sie gehört nicht in Züpfners Haus, nicht an seinen Frühstückstisch, nicht in sein Bett. Ich war sogar bereit, um sie zu kämpfen, obwohl das Wort kämpfen fast nur körperliche Vorstellungen bei mir auslöst, also Lächerliches: Rauferei mit Züpfner. Marie war für mich noch nicht tot, so wie meine Mutter eigentlich für mich tot ist. Ich glaube, daß die Lebenden tot sind, und die Toten leben, nicht wie die Christen und Katholiken es glauben. Für mich ist ein Junge, wie dieser Georg, der sich mit einer Panzerfaust in die Luft sprengte, lebendiger als meine Mutter. Ich sehe den sommersprossigen, ungeschickten Jungen da auf der Wiese vor dem Apoll, höre Herbert Kalick schreien: »Nicht so, nicht so — «; höre die Explosion, ein paar, nicht sehr viele Schreie, dann Kalicks Kommentar: »Zum Glück war Georg ja ein Waisenkind«, und eine halbe Stunde später beim Abendessen an jenem Tisch, wo man über mich zu Gericht gesessen hatte, sagte meine Mutter zu Leo: »Du wirst es einmal besser machen als dieser dumme Junge, nicht wahr!« Leo nickt, mein Vater blickt zu mir herüber, findet in den Augen seines zehnjährigen Sohnes keinen Trost. Meine Mutter ist inzwischen schon seit Jahren Präsidentin des Zentralkomitees der Gesellschaften zur Versöhnung rassischer Gegensätze; sie fährt zum Anne-Frank-Haus, gelegentlich sogar nach Amerika, und hält vor amerikanischen Frauenklubs Reden über die Reue der deutschen Jugend, immer noch mit ihrer sanften, harmlosen Stimme, mit der sie Henriette wahrscheinlich zum Abschied gesagt hat: »Machs gut, Kind.« Diese Stimme konnte ich jederzeit am Telefon hören, Henriettes Stimme nie mehr. Sie hatte eine überraschend dunkle Stimme und ein helles Lachen. Einmal fiel ihr mitten in einem Tennismatch der Schläger aus der Hand, sie blieb auf dem Platz stehen und blickte träumend in den Himmel, ein anderes Mal ließ sie während des Essens den Löffel in die Suppe fallen; meine Mutter schrie auf, beklagte die Flecken auf Kleid und Tischtuch; Henriette hörte das gar nicht, und als sie wieder zu sich kam, nahm sie nur den Löffel aus dem Suppenteller, wischte ihn an der Serviette ab und aß weiter; als sie ein drittes Mal, während des Kartenspielens am Kamin, in diesen Zustand verfiel, wurde meine Mutter richtig böse. Sie schrie: »Diese verdammte Träumerei«, und Henriette blickte sie an und sagte ruhig: »Was ist denn, ich habe einfach keine Lust mehr«, und warf die Karten, die sie noch in der Hand hatte, ins Kaminfeuer. Meine Mutter holte die Karten aus dem Feuer, verbrannte sich die Finger dabei, rettete aber die Karten bis auf eine Herzsieben, die angesengt war, und wir konnten nie mehr Karten spielen, ohne an Henriette zu denken, wenn auch meine Mutter so zu tun versuchte »als wäre nichts gewesen«. Sie ist gar nicht boshaft, nur auf eine unbegreifliche Weise dumm, und sparsam. Sie duldete nicht, daß ein neues Kartenspiel gekauft wurde, und ich nehme an, daß die angesengte Herzsieben immer noch im Spiel ist und meine Mutter sich nichts dabei denkt, wenn sie ihr beim Patiencenlegen in die Hand kommt. Ich hätte gern mit Henriette telefoniert, aber die Vermittlung für solche Gespräche haben die Theologen noch nicht erfunden. Ich suchte die Nummer meiner Eltern, die ich immer wieder vergesse, aus dem Telefonbuch: Schnier Alfons, Dr. h. c. Generaldirektor. Der Doktor h. c. war mir neu. Während ich die Nummer wählte, ging ich in Gedanken nach Hause, die Koblenzer Straße runter, in die Ebertallee, schwenkte links zum Rhein ab. Eine knappe Stunde zu Fuß. Schon hörte ich das Mädchen: »Hier bei Dr. Schnier.«