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»Was macht eigentlich Schnitzler?« fragte ich meine Mutter.

»Großartig«, sagte sie, »im Auswärtigen Amt kann man ohne ihn gar nicht mehr auskommen.« Sie hat das alles natürlich vergessen, erstaunlich genug, daß die jüdischen Yankees überhaupt bei ihr noch Erinnerungen auslösen. Ich bereute schon längst nicht mehr, daß ich mein Gespräch mit ihr so angefangen hatte. »Und was macht Großvater?« fragte ich. »Phantastisch«, sagte sie, »unverwüstlich. Feiert bald seinen neunzigsten. Es bleibt mir ein Rätsel, wie er das macht.«

»Das ist sehr einfach«, sagte ich, »diese alten Knaben werden weder von Erinnerungen noch von Gewissensqualen zermürbt. Ist er zu Hause?«

»Nein«, sagte sie, »er ist für sechs Wochen nach Ischia.« Wir schwiegen beide, ich war meiner Stimme immer noch nicht ganz sicher, sie ihrer wieder vollkommen, als sie mich fragte: »Aber der eigentliche Zweck deines Anrufs — es geht dir wieder schlecht, wie ich höre. Du hast berufliches Pech — hat man mir erzählt.«

»So?« sagte ich, »du fürchtest wohl, ich würde Euch um Geld angehen, aber das brauchst du doch nicht zu fürchten, Mama. Ihr gebt mir ja doch keins. Ich werde den Rechtsweg beschreiten, ich brauche das Geld nämlich, weil ich nach Amerika fahren will. Dort hat mir jemand eine Chance geboten. Ein jüdischer Yankee übrigens, aber ich werde alles tun, keine rassischen Gegensätze aufkommen zu lassen.« Sie war weiter vom Weinen entfernt denn je. Ich hörte, bevor ich auflegte, nur noch, daß sie irgend etwas von Prinzipien sagte. Übrigens hatte sie gerochen, wie sie immer gerochen hat: nach nichts. Eins ihrer Prinzipien: »Eine Dame strömt keinerlei Art von Geruch aus.« Wahrscheinlich hat mein Vater aus diesem Grund eine so hübsche Geliebte, die sicherlich keinerlei Geruch ausströmt, aber so aussieht, als sei sie wohlriechend.

6

Ich stopfte mir alle erreichbaren Kissen in den Rücken, legte mein wundes Bein hoch, zog das Telefon näher und überlegte, ob ich nicht doch in die Küche gehen, den Eisschrank öffnen und die Kognakflasche herüberholen sollte.

Dieses »berufliche Pech« hatte aus dem Mund meiner Mutter besonders boshaft geklungen, und sie hatte ihren Triumph nicht zu unterdrücken versucht. Wahrscheinlich war ich doch zu naiv, wenn ich annahm, hier in Bonn wüßte noch keiner von meinen Reinfällen. Wenn Mutter es wußte, wußte es Vater, dann wußte es auch Leo, durch Leo Züpfner, der ganze Kreis und Marie. Es würde sie furchtbar treffen, schlimmer als mich. Wenn ich das Saufen wieder ganz drangab, würde ich rasch wieder auf einer Stufe sein, die Zohnerer, mein Agent, als »ganz nett oberhalb des Durchschnitts« bezeichnet, und das würde ausreichen, mich meine noch fehlenden zweiundzwanzig Jahre bis zur Gosse hinbringen zu lassen. Was Zohnerer immer rühmt, ist meine »breite handwerkliche Basis«; von Kunst versteht er sowieso nichts, die beurteilt er mit einer fast schon genialen Naivität einfach nach dem Erfolg. Vom Handwerk versteht er was, und er weiß gut, daß ich noch zwanzig Jahre oberhalb der dreißig-Mark-Ebene herumtingeln kann. Bei Marie ist das anders. Sie wird betrübt sein über »den künstlerischen Abstieg« und über mein Elend, das ich gar nicht als so schrecklich empfinde. Jemand, der außen steht — jeder auf dieser Welt steht außerhalb jedes anderen — empfindet eine Sache immer als schlimmer oder besser als der, der in der Sache drin ist, mag die Sache Glück oder Unglück, Liebeskummer oder »künstlerischer Abstieg« sein. Mir würde es gar nichts ausmachen, in muffigen Sälen vor katholischen Hausfrauen oder evangelischen Krankenschwestern gute Clownerie oder auch nur Faxen zu machen. Nur haben diese konfessionellen Vereine eine unglückliche Vorstellung von Honorar. Natürlich denkt so eine gute Vereinsvorsteherin, fünfzig Mark sind eine nette Summe, und wenn er das zwanzigmal im Monat bekommt, müßte er eigentlich zurechtkommen. Aber wenn ich ihr dann meine Schminkrechnung zeige und ihr erzähle, daß ich zum Trainieren ein Hotelzimmer brauche, das etwas größer ist als zweizwanzig mal drei, denkt sie wahrscheinlich, meine Geliebte sei so kostspielig wie die Königin von Saba. Wenn ich ihr aber dann erzähle, daß ich fast nur von weichgekochten Eiern, Bouillon, Bouletten und Tomaten lebe, bekreuzigt sie sich und denkt, ich müßte unterernährt sein, weil ich nicht jeden Mittag ein »deftiges Essen« zu mir nehme. Wenn ich ihr weiterhin erzähle, daß meine privaten Laster aus Abendzeitungen, Zigaretten, Mensch-ärgere-Dich-nicht-spielen bestehen, hält sie mich wahrscheinlich für einen Schwindler. Ich habe es lange schon aufgegeben, mit irgendjemand über Geld zu reden oder über Kunst. Wo die beiden miteinander in Berührung kommen, stimmt die Sache nie: die Kunst ist entweder unter- oder überbezahlt. Ich habe in einem englischen Wanderzirkus einmal einen Clown gesehen, der handwerklich zwanzigmal und künstlerisch zehnmal soviel konnte wie ich und der pro Abend keine zehn Mark verdiente: er hieß James Ellis, war schon Ende vierzig, und als ich ihn zum Abendessen einlud — es gab Schinkenomelett, Salat und Apfelpastete — wurde ihm übeclass="underline" er hatte seit zehn Jahren nicht mehr so viel auf einmal gegessen. Seitdem ich James kennengelernt habe, rede ich nicht mehr über Geld und über Kunst.

Ich nehme es, wie es kommt, und rechne mit der Gosse. Marie hat ganz andere Ideen im Kopf; sie redete immer von »Verkündigung«, alles sei Verkündigung, auch, was ich tue; ich sei so heiter, sei auf meine Weise so fromm und so keusch, und so weiter. Es ist grauenhaft, was in den Köpfen von Katholiken vor sich geht. Sie können nicht einmal guten Wein trinken, ohne dabei irgendwelche Verrenkungen vorzunehmen, sie müssen sich um jeden Preis »bewußt« werden, wie gut der Wein ist, und warum. Was das Bewußtsein angeht, stehen sie den Marxisten nicht nach. Marie war entsetzt, als ich mir vor ein paar Monaten eine Guitarre kaufte und sagte, ich würde nächstens selbstverfaßte und selbstkomponierte Lieder zur Guitarre singen. Sie meinte, das wäre unter meinem »Niveau«, und ich sagte ihr, unter dem Niveau der Gosse gebe es nur noch den Kanal, aber sie verstand nicht, was ich damit meinte, und ich hasse es, ein Bild zu erklären. Entweder versteht man mich oder nicht. Ich bin kein Exeget.

Man hätte meinen können, meine Marionettenfäden wären gerissen; im Gegenteiclass="underline" ich hatte sie fest in der Hand und sah mich da liegen, in Bochum auf dieser Vereinsbühne, besoffen, mit aufgeschürftem Knie, hörte im Saal das mitleidige Raunen und kam mir gemein vor: ich hatte soviel Mitleid gar nicht verdient, und ein paar Pfiffe wären mir lieber gewesen; nicht einmal das Humpeln war ganz der Verletzung angemessen, obwohl ich tatsächlich verletzt war. Ich wollte Marie zurückhaben und hatte angefangen zu kämpfen, auf meine Weise, nur um der Sache willen, die in ihren Büchern als »fleischliches Verlangen« bezeichnet wird.

7

Ich war einundzwanzig, sie neunzehn, als ich eines Abends einfach auf ihr Zimmer ging, um mit ihr die Sachen zu tun, die Mann und Frau miteinander tun. Ich hatte sie am Nachmittag noch mit Züpfner gesehen, wie sie Hand in Hand mit ihm aus dem Jugendheim kam, beide lächelnd, und es gab mir einen Stich. Sie gehörte nicht zu Züpfner, und dieses dumme Händchenhalten machte mich krank. Züpfner kannte fast jedermann in der Stadt, vor allem wegen seines Vaters, den die Nazis rausgeschmissen hatten; er war Studienrat gewesen und hatte es abgelehnt, nach dem Krieg gleich als Oberstudiendirektor an dieselbe Schule zu gehen. Irgendeiner hatte ihn sogar zum Minister machen wollen, aber er war wütend geworden und hatte gesagt: »Ich bin Lehrer, und ich möchte wieder Lehrer sein.« Er war ein großer, stiller Mann, den ich als Lehrer ein bißchen langweilig fand. Er vertrat einmal unseren Deutschlehrer und las uns ein Gedicht, das von der schönen, jungen Lilofee, vor.