Ich stand auf und sagte zu Marie: »Wein doch nicht«, und sie hörte auf zu weinen und machte mit der Puderquaste die Tränenrillen wieder glatt. Bevor wir auf ihr Zimmer gingen, blieben wir im Flur noch am Fenster stehen und blickten auf die Straße: es war Januar, die Straße naß, gelb die Lichter über dem Asphalt, grün die Reklame über dem Gemüseladen drüben: Emil Schmitz. Ich kannte Schmitz, wußte aber nicht, daß er Emil mit Vornamen hieß, und der Vorname Emil kam mir bei dem Nachnamen Schmitz unpassend vor. Bevor wir in Maries Zimmer gingen, öffnete ich die Tür einen Spalt und knipste drinnen das Licht aus.
Als ihr Vater nach Hause kam, schliefen wir noch nicht; es war fast elf, wir hörten, wie er unten in den Laden ging, sich Zigaretten zu holen, bevor er die Treppe heraufkam. Wir dachten beide, er müsse etwas merken: es war doch etwas so Ungeheures passiert. Aber er merkte nichts, lauschte nur einen Augenblick an der Tür und ging nach oben. Wir hörten, wie er seine Schuhe auszog, auf den Boden warf, wir hörten ihn später im Schlaf husten. Ich dachte darüber nach, wie er die Sache hinnehmen würde. Er war nicht mehr katholisch, schon lange aus der Kirche ausgetreten, und er hatte bei mir immer auf die »verlogene sexuelle Moral der bürgerlichen Gesellschaft« geschimpft und war wütend »über den Schwindel, den die Pfaffen mit der Ehe treiben«. Aber ich war nicht sicher, ob er das, was ich mit Marie getan hatte, ohne Krach hinnehmen würde. Ich hatte ihn sehr gern und er mich, und ich war versucht, mitten in der Nacht aufzustehen, auf sein Zimmer zu gehen, ihm alles zu sagen, aber dann fiel mir ein, daß ich alt genug war, einundzwanzig, Marie auch alt genug, neunzehn, und daß bestimmte Formen männlicher Aufrichtigkeit peinlicher sind als Schweigen, und außerdem fand ich: es ging ihn gar nicht so viel an, wie ich gedacht hatte. Ich hätte ja wohl kaum am Nachmittag zu ihm gehen und ihm sagen können: »Herr Derkum, ich will diese Nacht bei Ihrer Tochter schlafen« — und was geschehen war, würde er schon erfahren. Wenig später stand Marie auf, küßte mich im Dunkeln und zog die Bettwäsche ab. Es war ganz dunkel im Zimmer, von draußen kam kein Licht rein, wir hatten die dicken Vorhänge zugezogen, und ich dachte darüber nach, woher sie wußte, was jetzt zu tun war: die Bettwäsche abziehen und das Fenster öffnen. Sie flüsterte mir zu: Ich geh ins Badezimmer, wasch du dich hier, und sie zog mich an der Hand aus dem Bett, führte mich im Dunkeln an der Hand in die Ecke, wo ihre Waschkommode stand, führte meine Hand an den Waschkrug, die Seifenschüssel, die Waschschüssel und ging mit den Bettüchern unterm Arm raus. Ich wusch mich, legte mich wieder ins Bett und wunderte mich, wo Marie so lange mit der sauberen Wäsche blieb. Ich war todmüde, froh, daß ich, ohne in Angstzustände zu fallen, an den verflixten Günther denken konnte, und bekam dann Angst, es könnte Marie irgend etwas passiert sein. Im Internat hatten sie fürchterliche Einzelheiten erzählt. Es war nicht angenehm, ohne Bettwäsche da auf der Matratze zu liegen, sie war alt und durchgelegen, ich hatte nur mein Unterhemd an und fror. Ich dachte wieder an Maries Vater. Alle hielten ihn für einen Kommunisten, aber als er nach dem Krieg Bürgermeister werden sollte, hatten die Kommunisten dafür gesorgt, daß er's nicht wurde, und jedesmal, wenn ich anfing, die Nazis mit den Kommunisten zu vergleichen, wurde er wütend und sagte: »Es ist schon ein Unterschied, Junge, ob einer in einem Krieg fällt, den eine Schmierseifenfirma führt — oder ob er für eine Sache stirbt, an die einer glauben kann.« Was er wirklich war, weiß ich bis heute nicht, und als Kinkel ihn einmal in meiner Gegenwart einen »genialen Sektierer« nannte, war ich drauf und dran, Kinkel ins Gesicht zu spucken. Der alte Derkum war einer der wenigen Männer, die mir Respekt eingeflößt haben. Er war mager und bitter, viel jünger, als er aussah, und vom vielen Zigarettenrauchen hatte er Atembeschwerden. Ich hörte ihn die ganze Zeit über, während ich auf Marie wartete, da oben im Schlafzimmer husten, kam mir gemein vor, und wußte doch, daß ichs nicht war. Er hatte einmal zu mir gesagt: »Weißt du auch, warum in den herrschaftlichen Häusern, wie dein Elternhaus eins ist, die Dienstmädchenzimmer immer neben den Zimmern für die heranwachsenden Jungen liegen? Ich will es dir sagen: es ist eine uralte Spekulation auf die Natur und die Barmherzigkeit.« Ich wünschte, er wäre runtergekommen und hätte mich in Maries Bett überrascht, aber raufgehen und sozusagen Meldung erstatten, das wollte ich nicht.
Es wurde schon hell draußen. Mir war kalt, und die Schäbigkeit von Maries Zimmer bedrückte mich. Die Derkums galten schon lange als heruntergekommen, und der Abstieg wurde dem »politischen Fanatismus« von Maries Vater zugeschrieben. Sie hatten eine kleine Druckerei gehabt, einen kleinen Verlag, eine Buchhandlung, aber jetzt hatten sie nur noch diesen kleinen Schreibwarenladen, in dem sie auch Süßigkeiten an Schulkinder verkauften. Mein Vater hatte einmal zu mir gesagt: »Da siehst du, wie weit Fanatismus einen Menschen treiben kann — dabei hat Derkum nach dem Krieg als politisch Verfolgter die besten Chancen gehabt, seine eigene Zeitung zu bekommen.« Merkwürdigerweise hatte ich den alten Derkum nie fanatisch gefunden, aber vielleicht hatte mein Vater Fanatismus und Konsequenz miteinander verwechselt. Maries Vater verkaufte nicht einmal Gebetbücher, obwohl das eine Möglichkeit gewesen wäre, besonders vor den weißen Sonntagen ein bißchen Geld zu verdienen.