»Die Sie alarmiert haben, als Sie in die Pyramide eingedrungen sind«, sagte Miss Preussler.
»Schuldzuweisungen«, antwortete Graves kühl, »ändern leider nichts an unserer Situation.« Er wandte sich an Tom.
»Wie viele sind es? Glaubst du, dass wir uns mit unseren Gewehren nötigenfalls den Weg freikämpfen können?«
Tom warf einen flüchtigen Blick zu Mogens und den beiden Frauen, dann schüttelte er stumm den Kopf.
»Dann brauchen wir einen anderen Weg nach draußen«, sagte Graves besorgt.
»Was ist mit dem Kanal?«, fragte Mogens.
»Was für ein Kanal?« Miss Preussler wurde hellhörig.
»Es war Salzwasser«, fuhr Tom fort, als Graves nicht sofort antwortete, sondern ihn nur unentschlossen ansah. »Ich bin ziemlich sicher, dass er 'ne Verbindung zum Meer hat.«
»Von welchem Kanal reden Sie?«, fragte Miss Preussler. »Doktor Graves! Professor!«
»Und das Boot ist groß genug für uns alle«, fuhr Tom unbeeindruckt fort.
»Was für ein Boot?«, fragte Miss Preussler scharf. »Professor!«
»Tom hat ein Boot entdeckt«, antwortete er fast widerwillig. »Und einen Kanal, der möglicherweise nach draußen führt.«
Miss Preussler starrte ihn an. Warum auch immer - Mogens konnte ihr ansehen, wie sehr sie die Tatsache erzürnte, dass man ihr diese Entdeckung vorenthalten hatte. »Und das ging mich bisher nichts an, vermute ich«, sagte sie.
»Wir wollten Sie nicht unnötig beunruhigen, meine Liebe«, sagte Graves, nun wieder in seinem gewohnten, arrogantüberheblichen Ton. »Außerdem erschien uns dieser Kanal bisher nicht von großem Nutzen.« Er wandte sich wieder an Tom. »Ist der Weg bis dahin ungefährlich?«
Tom hob nur die Schultern.
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Miss Preussler. Sie klang noch immer verärgert. »Wenn uns wirklich nur noch so wenig Zeit bleibt, dann sollten wir sie nicht mit unnötigem Reden vertrödeln.«
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte Graves zu diesem Thema auch das eine oder andere beizutragen gehabt, aber er beließ es bei einem angedeuteten Achselzucken und wandte sich dann mit einem umso übertriebeneren Nicken wieder an Tom. »Also gut. Wir beide gehen voraus. Mogens - du und die Frauen folgen uns, wenn ihr unser Zeichen seht.«
Welches Zeichen, wollte Mogens fragen, doch Graves und der Junge wandten sich bereits um und waren in der nächsten Sekunde aus der Tür. Tom schien auch jetzt wieder von einem Atemzug zum nächsten zu einer vollkommen anderen Person zu werden und bewegte sich erneut mit jener katzenhaften Geschmeidigkeit, die Mogens vorhin schon so an ihm bewundert hatte, während Graves ihm rasch, aber auf eine irgendwie unbeholfen wirkende Art folgte. Wie er es schon mehrmals beobachtet hatte, schienen sie sich beide deutlich schneller zu entfernen, als eigentlich möglich war. Selbst wenn Mogens es gewagt hätte, Graves noch eine entsprechende Frage nachzurufen, hätte er sie vermutlich schon nach dem ersten Atemzug nicht mehr gehört. Die beiden entfernten sich in dieselbe Richtung, aus der sie vorhin alle gekommen waren, und Tom verschwand hinter einer der monströsen Tierstatuen, die die gewaltige Allee säumten; vielleicht sog ihn die verzehrende Optik dieser unheimlichen Stadt auch einfach auf.
»Das mit dem Boot tut mir Leid«, sagte Mogens unbehaglich. »Wir hätten es Ihnen sagen sollen - aber es erschien mir wirklich nicht wichtig.« Aber war das wirklich die Wahrheit, fragte er sich. Die ehrliche Antwort gerade hätte Nein gelautet. Dieses Boot war wichtig. Aber etwas daran - irgendetwas in dieser unterirdischen Höhle - hatte ihn zutiefst erschreckt.
»Es ist schon gut«, antwortete Miss Preussler in einem unerwartet sanften, fast schon mütterlichen Ton, der ihn begreifen ließ, dass der Zorn und die Empörung in ihrer Stimme einzig Graves gegolten hatten, nicht ihm. »Ich... ich muss mich noch bei Ihnen bedanken, Professor.«
Mogens wandte sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu ihr um. »Wofür?«
Miss Preussler druckste einen Moment herum. Schließlich antwortete sie, ohne ihm direkt in die Augen zu blicken: »Was Sie vorhin getan haben, war sehr mutig.«
»Ich verstehe nicht...«, antwortete Mogens. Das war die Wahrheit. Er verstand tatsächlich nicht gleich, wovon sie überhaupt sprach.
»Dieses Ungeheuer, das mich angegriffen hat«, erklärte sie. »Es hätte mich getötet, wenn Sie nicht eingegriffen hätten. Sie haben Ihr Leben riskiert, um mich zu retten.«
Mogens hob verlegen die linke Schulter, und er konnte selbst spüren, wie sich ein fast albernes Grinsen auf seinen Lippen ausbreitete. Miss Preusslers Worte machten ihn tatsächlich verlegen, und sie entsprachen ebenso sehr der Wahrheit, wie sie nicht stimmten. Zweifellos hatte er sein Leben riskiert, indem er den Ghoul angriff, aber sein scheinbar selbstloses Verhalten hatte nichts mit Mut zu tun gehabt. Tatsache war, dass er gar nicht darüber nachgedacht hatte.
»Ich wollte eigentlich...«
»... keinen Dank, ich weiß«, unterbrach ihn Miss Preussler. »Gerade das macht es ja so schwer.« Sie schüttelte den Kopf, und ein sonderbar weicher Ausdruck erschien in ihren Augen, den Mogens nicht zu deuten vermochte. »Sie sind ein so guter Mensch, Professor, und Sie machen es einem so schwer. Aber ich glaube, ich habe Ihnen lange Zeit über Unrecht getan.«
»Womit?«, fragte Mogens.
Bevor sie antwortete, drehte Miss Preussler den Kopf und maß das Mädchen mit einem sehr langen, sehr traurigen Blick. »Das Mädchen, von dem Sie mir erzählt haben. Ihre Freundin.«
»Janice.«
»Janice«, bestätigte Miss Preussler. »Diese Ungeheuer haben sie geholt?«
»Ja«, bestätigte Mogens bitter. »Ich war dabei. Und es war meine Schuld.«
»Unsinn«, sagte Miss Preussler sanft. »Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Aber es ist die Wahrheit«, murmelte Mogens. »Sie haben sie vor meinen Augen entführt, und ich habe nichts getan, um sie daran zu hindern.«
Miss Preusslers Hände machten eine unwillige Geste, wie um seine Worte wegzuwischen. »Und was hätten Sie tun sollen?«, fragte sie. »Diese Kreaturen mit bloßen Händen angreifen? Sie wären getötet worden.«
»Ich weiß«, antwortete Mogens. Aber das war nicht der Punkt. Vielleicht wäre es seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, bei dem Versuch getötet zu werden, Janice zu retten. Aber er hatte einfach dagestanden und zugesehen, starr vor Schrecken und gelähmt vor Entsetzen und - ja, und vor Angst -, und er hatte nichts getan. Warum hatte er vor neun Jahren nicht ebenso reagiert wie vor neun Minuten? Das Schlimme an dem, was er erlebt hatte, war nicht sein Versagen. In diesem Punkt hatte Miss Preussler vollkommen Recht: Es hätte nichts geändert. Er wäre getötet oder bestenfalls schwer verwundet worden, und der Ghoul hätte Janice trotzdem verschleppt. Aber er hatte es ja nicht einmal versucht.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Professor«, sagte Miss Preussler. Anscheinend war es in diesem Moment nicht schwer, seine Gedanken zu lesen. »Niemandem ist damit geholfen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, das aber eben so verunglückte wie der aufmunternde Ton, in dem sie weiter zu reden versuchte. »Wenn Sie noch etwas für dieses arme Mädchen tun wollen, dann helfen Sie mir, ein Auge auf Doktor Graves zu halten.«
»Sie trauen ihm nicht«, vermutete Mogens. Was für eine Frage!
»Natürlich nicht«, antwortete sie. »Im Moment glaubt er vermutlich sogar selbst, was er sagt. Aber das wird nicht so bleiben. Ich kenne Menschen wie Graves zur Genüge. Wenn wir hier herauskommen, dann wird er es sich überlegen. Ein Mann wie er wird niemals zulassen, dass das alles hier zerstört wird. Aber das wiederum werde ich nicht zulassen.«
Ihre Worte klangen nicht nur bitterernst, Mogens spürte auch, dass sie genau so gemeint waren. Und sie hatte Recht. Irgendetwas hatte Graves zutiefst erschreckt und bis auf den Grund seiner Seele verstört, und jetzt, in diesem Augenblick, meinte er zweifellos ganz genau das, was er gesagt hatte. Aber das würde nicht so bleiben. Jonathan Graves würde niemals zulassen, dass diese Stadt zerstört wurde.