»Graves, was fällt Ihnen ein?«, keuchte Miss Preussler.
Graves würdigte sie nicht einmal einer Antwort. Mitleidlos sah er auf die schluchzende junge Frau herab und wartete, bis sie den Kopf hob und zu ihm hochsah, und hielt das tote Kind an einem ausgestreckten Arm vor sich. »Willst du das hier?«, fragte er. »Kein Problem. Du bekommst es wieder, sobald wir auf der anderen Seite sind.«
»Graves, Sie...«, begann Miss Preussler, wurde aber sofort und in scharfem Ton von Graves unterbrochen.
»Halten Sie den Mund, Gnädigste«, sagte er abfällig. »Ich habe keine Lust, mich umbringen zu lassen, nur weil Sie auf die Befindlichkeiten einer halb schwachsinnigen Fremden Rücksicht nehmen wollen! Sie wird schon mit uns kommen, wenn sie ihr Kind wiederhaben will. Aber Sie können gerne hier bleiben und sie trösten, wenn Sie es wünschen. Ich für meinen Teil gehe jedenfalls. Mogens, kommst du?«
Er wartete auch Mogens' Antwort nicht, sondern fuhr auf dem Absatz herum und begann mit schnellen Schritten über die Brücke davon zu gehen. Miss Preussler starrte ihm wütend und entsetzt zugleich hinterher, während Mogens für einen Moment einfach hin und her gerissen war. Graves' Rücksichtslosigkeit empört ihn genauso sehr wie Miss Preussler, aber er musste auch widerwillig zugeben, dass er Recht hatte. Jede Minute, die sie verloren, mochte sich durchaus als genau die erweisen, die am Ende über Leben und Tod entschied.
Das Mädchen nahm ihnen die Entscheidung ab. Zwei, drei endlose, schwere Atemzüge lang starrte sie Graves noch aus weit aufgerissenen Augen an, dann sprang sie mit einem wimmernden Laut auf die Füße und rannte hinter ihm her. Graves, der ihre Schritte gehört haben musste, warf ihr einen spöttischen Blick über die Schulter hinweg zu und ging ebenfalls schneller. Er rannte zwar nicht, schritt aber so vehement aus, dass die junge Frau ihn wohl erst einholen würde, wenn sie auf der anderen Seite der Brücke angekommen waren.
»Dieser Mann ist ein Monster«, murmelte Miss Preussler.
»Ja«, gestand Mogens, fügte aber mit einem entschuldigenden Kopfnicken in Graves' Richtung hinzu: »Aber anscheinend funktioniert es.«
Miss Preussler starrte ihn so wütend an, dass er beinahe sicher war, dass sich ihr heiliger Zorn nun auf ihn entladen würde. Dann aber schüttelte sie nur verächtlich den Kopf und beeilte sich, Graves und dem Mädchen auf die Brücke hinauf zu folgen. Auch Mogens trat auf das bizarre Bauwerk, das, kaum dass sein Fuß es berührt hatte, schon wieder seine Sinne auf dieselbe, schwindelnd machende Art zu narren begann wie vorhin, warf aber noch einmal einen Blick über die Schulter zurück. Die Stadt lag noch immer ruhig und wie ausgestorben da, und dennoch spürte er zugleich auch die Anwesenheit von etwas Fremdem, das ihn aus unsichtbaren Augen zu belauern und jeden seiner Schritte aufmerksam zu registrieren schien. Fast ohne sein Zutun folgte sein Blick der von monströsen Statuen gesäumten Allee bis zu der riesigen, fast schwarzen Pyramide im Zentrum. Nun, da er wusste, was sie beherbergte, kam sie ihm bedrohlich vor: der Umriss eines kauernden Ungeheuers, das sich jederzeit zum Sprung spannen und mit all seiner schrecklichen Macht über sie herfallen konnte. Die vergoldete Spitze fing das grüne Licht, das den gewaltigen Felsendom erfüllte, auf sonderbare Weise auf und schien es zu verstärken und zugleich in etwas Anderes, Boshaftes zu verwandeln.
Irgendetwas lauerte dort. Er konnte es spüren. Und er war sicher, dass dieses... Etwas ihre Anwesenheit ebenso deutlich fühlte.
Mogens schüttelte den Gedanken ab und beschleunigte seine Schritte, um zu Miss Preussler aufzuschließen, auch wenn ihm nicht wohl dabei war. Graves, der am Schluss noch ein kurzes Stück in einen leichten Trab verfallen war, hatte mittlerweile das jenseitige Ende der Brücke erreicht, und auch das Mädchen hatte ihn fast eingeholt. Graves' Grausamkeit schien nicht so weit zu reichen, dass er es auf die Spitze getrieben hätte - kurz, bevor die junge Frau bei ihm war, ließ er sich in die Hocke sinken und legte das leblose Kind fast behutsam zu Boden. Dann sprang er auf, machte drei rasche Schritte zurück und bewegte sich dabei gleichzeitig so, dass er dem Mädchen den Fluchtweg über die Brücke abschnitt, sollte sie auf den Gedanken kommen, in die Stadt zurückzukehren. Sie riss jedoch nur das Kind an sich, presste es nun mit beiden Armen schützend gegen die Brust und verkroch sich dann in einem Winkel der mehr als mannshohen, schwarzen Felsen, vor der die Brücke endete.
Miss Preussler überschüttete Graves mit einer wahren Flut von Beschimpfungen und Vorwürfen, die dieser jedoch mit stoischem Gesichtsausdruck und ohne ein Wort der Verteidigung über sich ergehen ließ, und als auch Mogens als Letzter bei ihnen anlangte, wandte sie sich mit einem Ruck um und trat auf das Mädchen zu. Diesmal reagierte die junge Frau tatsächlich so, wie Mogens erwartet hatte und Miss Preussler anscheinend auch: Sie presste sich mit aller Kraft gegen den rauen Fels, und für einen winzigen Moment nahm ihr Gesicht einen gehetzten, fast panischen Ausdruck an. Ihr Blick irrte hierhin und dorthin, blieb für eine Sekunde an Graves' hoch aufgeschossener Gestalt hängen, die den einzigen Fluchtweg versperrte, und sie machte tatsächlich eine schwache Bewegung, wie um es trotzdem zu versuchen, zog sich aber praktisch im gleichen Augenblick auch schon wieder in die Nische zurück.
»Bitte, mein Kind, du musst mir vertrauen!«, sagte Miss Preussler in flehendem Ton. Sie streckte vorsichtig die Hand nach dem Mädchen aus, erreichte damit aber nicht mehr, als dass es das Kind noch fester gegen sich presste und allen Ernstes zu versuchen schien, in den Felsen hineinzukriechen. Es hatte aufgehört zu wimmern, aber sein Gesicht war eine einzige Grimasse der Furcht.
Wütend fuhr Miss Preussler zu Graves herum. »Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben!«, sagte sie aufgebracht. »Ist Gewalt denn alles, wozu Sie fähig sind?«
Graves zog verächtlich die linke Augenbraue hoch. Ohne auf Miss Preusslers Worte zu reagieren, löste er sich von seinem Platz, trat auf sie zu und schob sie dann - ihre neuerlichen, geharnischten Proteste beharrlich ignorierend - einfach aus dem Weg. Gleichzeitig streckte er den linken Arm in Richtung des Mädchens aus.
Die junge Frau wimmerte vor Angst, und Mogens hielt instinktiv den Atem an, als er in Miss Preussler Gesicht sah. Der Ausdruck darauf machte ihm klar, dass sie etwas wie das, was er vorhin auf der anderen Seite der Brücke getan hatte, nicht noch einmal dulden würde.
Graves versuchte aber auch nicht, dem Mädchen das Kind noch einmal zu entreißen. Er machte zwar eine entsprechende Bewegung, ließ den Arm dann aber sofort wieder sinken, trat demonstrativ einen Schritt zurück und wies mit der anderen Hand in die Richtung, in der ihr Ziel lag. Er sagte nichts, aber das Mädchen hatte verstanden, was er von ihm wollte. Ohne Graves' Gesicht auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen, geduckt und wimmernd vor Furcht, aber gehorsam trat sie aus der Felsnische heraus und bewegte sich langsam in die Richtung, in die Graves deutete.
»Sehen Sie?«, fragte Graves mit einem dünnen, überheblichen Lächeln. »Es funktioniert.«
»Habe ich schon gesagt, dass ich Sie für einen Unmenschen halte, Doktor Graves?«, fragte Miss Preussler spröde.
»Mehrmals«, bestätigte Graves. »Aber Sie können sich später noch in aller Ausführlichkeit bei mir bedanken, meine Liebe. Jetzt gehen Sie bitte. Unsere Zeit wird nicht mehr.«
Natürlich gehorchte Miss Preussler erst, nachdem sie ihm einen letzten, vernichtenden Blick zugeworfen hatte, dann aber wandte sie sich mit einem Ruck um und beeilte sich, zu dem Mädchen aufzuschließen. Mogens beobachtete, wie sie ihr den Arm um die Schulter legen wollte und das Mädchen die Bewegung erschrocken abschüttelte. Er hoffte, dass Graves nicht trotz allen scheinbar sichtlichen Erfolgs letztendlich einen Fehler gemacht hatte. Wenn die junge Frau sich im falschen Moment entschloss, etwas Unbedachtes zu tun, konnte das gut zu ihrer aller Verhängnis werden.