Die Erkenntnis traf Mogens mit der Wucht eines Faustschlages.
Was dort unter ihnen vorbeizog, das waren keine willkürlich von einem blinden Schicksal erschaffenen Monster.
Es waren die alten ägyptischen Götter.
Mogens erkannte nicht alle Kreaturen wieder. Manche hatten vielleicht nie Eingang in das Pantheon der ägyptischen Götterwelt gefunden. Manche waren den Menschen vielleicht nie begegnet, andere vielleicht erst gekommen, nachdem das Volk der Pharaonen schon längst wieder verschwunden war, wieder andere vielleicht zu entsetzlich, um selbst in Gestalt eines Dämons in den Legenden der Menschen weiter zu existieren, doch nur zu viele erkannte er wieder. Da waren Horus und Thoth, Seth und Ra, Bastet und Sobek und andere, niedere Götter, deren Namen niemals festgehalten worden waren, deren Bildnisse er aber kannte. Es war ein Anblick, der ihn für einen Moment an den Rand des Wahnsinns brachte - und sogar einen Schritt darüber hinaus.
Wie er den Rückweg fand, wusste er nicht. Vielleicht fand er ihn auch nicht wirklich. Etwas in ihm zerbrach und blieb unwiderruflich und unrettbar zurück in jener grauen Welt des Zwielichts, die auf dem schmalen Grat zwischen Hell und Dunkel existiert und in der nicht nur der Wahnsinn, sondern auch alle Hoffnungen und Ängste beheimatet sind.
Und dennoch war das noch nicht das Allerschlimmste. So grauenhaft der Anblick dieser grässlichen Kreaturen auch sein mochte, schlimmer als das, was er sah, war das, was er fühlte. Etwas - nein, er verbesserte sich in Gedanken: nicht etwas, alles - an diesen Geschöpfen war falsch. Sie bewegten sich nicht richtig, sondern auf eine Art, die er nicht in Worte kleiden konnte; sie waren nicht richtig, auf eine Art, die er noch viel weniger in Worte kleiden konnte, weil es keine Worte in irgendeiner Sprache dieser Welt gab, um es zu beschreiben, weil alles an ihnen falsch, falsch, falsch war.
»Was meinst du damit?«, fragte Graves.
Mogens sah ihn verständnislos an.
»Du hast gesagt: nicht hierher«, erklärte Graves. »Was meinst du damit?«
Mogens konnte sich nicht erinnern, etwas Derartiges gesagt zu haben, aber wenn er nicht davon ausging, dass Graves plötzlich seine Gedanken lesen konnte, dann musste er es wohl. Fast beiläufig und erst mit einer Verspätung von zwei oder drei Sekunden erschrak er über die Tatsache, dass Graves überhaupt etwas gesagt hatte, bevor ihm klar wurde, dass das Panoptikum der Ungeheuer ihr Versteck längst passiert hatte.
»Sie gehören nicht hierher«, antwortete er schließlich, leise und mit fast tonloser, belegter Stimme.
»Ja, zu dem Schluss könnte man fast gelangen, wenn man sie so sieht, nicht wahr?«, fragte Graves. Er klang auf eine vollkommen unangemessene Weise amüsiert, fand Mogens. »Und ich fürchte, sie sind in der Tat so unangenehm, wie sie aussehen. Selbstverständlich ist so etwas immer eine Frage des Standpunktes.«
»Findest du das in irgendeiner Art komisch?«, fragte Mogens kalt.
Graves schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das sollte es auch nicht sein. Bitte verzeih, wenn ich mich missverständlich ausgedrückt habe. Ich wollte dich nicht verspotten. Ich kann mir vorstellen, was du bei ihrem Anblick empfindest. Mir erging es nicht anders, als ich sie das erste Mal sah. Sie sind schrecklich, und ich bin sicher, dass sie tatsächlich sehr gefährlich sind. Aber gerade du als Wissenschaftler solltest nicht vergessen, was sie sind.«
»Und was sind sie Ihrer Meinung nach, Doktor Graves?«
Es war nicht Mogens, der diese Frage gestellt hatte, sondern Miss Preussler. Sie hatte sich nicht von ihrem Platz entfernt, aber dennoch ganz offensichtlich jedes Wort gehört und auch, wenn sie die Ungeheuer nicht gesehen hatte und annehmen mussten, dass sie noch immer über die Ghoule sprachen, machte sie das Gehörte doch eindeutig wütend.
»Geschöpfe einer vollkommen anderen Welt, Miss Preussler«, antwortete Graves ruhig.
»Mir kommen sie eher vor wie Geschöpfe des Satans«, sagte sie.
»Sie verstehen nicht«, antwortete Graves. »Es handelt sich nicht einfach nur um eine unbekannte Spezies, irgendein unbekanntes Tier, das ein Forscher aus Afrika oder Asien mitgebracht hat oder von irgendeinem anderen weißen Fleck auf der Landkarte.« Er schüttelte heftig den Kopf, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, lächelte aber trotzdem unerschütterlich weiter. Seine Stimme hatte die gewohnte Überheblichkeit verloren und klang eher wie die eines Lehrers, der seinen Schülern geduldig zum unzähligsten Male eine komplizierte Materie erklärt, auch wenn er insgeheim sehr wohl wusste, wie wenig sie sie verstanden. »Diese Wesen sind das Ergebnis einer vollkommen anderen Evolution, Miss Preussler. Sie sind mit nichts zu vergleichen, was es auf dieser Welt gibt.«
»Und worauf wollen Sie hinaus?«, erkundigte sich Miss Preussler misstrauisch.
»Dass es unnötig ist, Angst vor ihnen zu haben«, antwortete Graves. »Es ist nichts Verwerfliches. Es ist verständlich, aber falsch. Diese Wesen sind vollkommen fremd. Wir Menschen können ja nicht einmal miteinander in Frieden leben, wie können Sie da erwarten, Geschöpfen einer so fremden Welt ohne Vorbehalte begegnen zu können.«
»Ich habe keine Vorbehalte«, sagte Miss Preussler. »Mir reicht, was ich gesehen habe.« Sie warf einen bezeichnenden Blick in Richtung des Mädchens, das mit angezogenen Knien im hintersten Winkel der Höhle hockte. Seine Augen waren leer, und es ließ ein leises, unmelodisches Summen hören, während es das reglose Schakalkind schaukelte, aber nach dem, was Mogens gerade erlebt hatte, war er gar nicht mehr so sicher, dass sie tatsächlich so wenig von dem mitbekam, was rings um sie herum geschah, wie er bis jetzt angenommen hatte.
Auch Graves war Miss Preusslers Blick gefolgt und schüttelte jetzt traurig den Kopf. »Ja, Sie haben Recht, Miss Preussler«, sagte er. »Es ist schrecklich, was man diesen armen Menschen angetan hat. Aber man darf diese Wesen nicht mit unseren Maßstäben messen.«
»Aber das tue ich doch gar nicht«, antwortete Miss Preussler. »Ich verurteile sie nicht, Doktor Graves. Ich will sie einfach nur umbringen.«
Graves' Lächeln gefror. Er erwiderte nichts mehr, aber Mogens konnte ihm nicht nur ansehen, wie schwer es ihm nun fiel, noch weiter die Fassung zu wahren - er begriff auch endgültig, dass Miss Preussler Recht gehabt hatte. Graves würde niemals zulassen, dass all dies hier zerstört wurde.
»Ich glaube, wir können jetzt weiter«, mischte sich Tom ein. »Sie sind weg.«
Graves sah ihn stirnrunzelnd an. Er wirkte verärgert, aber Mogens hatte den Eindruck, dass sein Ärger weit mehr der Tatsache galt, dass Tom es überhaupt gewagt hatte, von sich aus das Wort zu ergreifen, und nicht dem, was er sagte. Als er schließlich nickte, sah es aus, als nähme er es Tom übel, Recht zu haben.
»Meinetwegen«, sagte er widerwillig. »Aber vielleicht gehst du doch besser voraus und überzeugst dich davon, dass auch wirklich niemand auf uns wartet.«
51.
Auf dem Weg zurück bebte die Erde noch zweimal. Aber es waren schwache Erdstöße, der letzte kaum mehr als ein Zittern, der allerletzte, schwache Schauder eines überstandenen Fiebers. Aus dem Boden drangen keine Maden mehr, und es regnete auch keine Steine und Felsbrocken von der Decke. Trotzdem atmete nicht nur Mogens erleichtert auf, als sie den von Kälte und Dunkelheit erfüllten Spalt im Felsen erreichten, der sie vorhin hierher geführt hatte. Der Weg war nicht einmal mehr weit gewesen - wenige hundert Schritte, die sie in ebenso wenigen Augenblicken zurückgelegt hatten -, aber auf dem letzten Stück war Graves immer nervöser geworden und hatte allein zweimal seine Taschenuhr herausgezogen, um einen Blick auf das Ziffernblatt zu werfen. Möglicherweise wusste er doch mehr über die präzise Dauer der Frist, die noch blieb; vielleicht hatte er auch schlicht und einfach nur Angst. Mogens verzichtete darauf, ihn zu fragen.