»Professor?«, fragte Miss Preussler alarmiert.
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Mogens rasch und hoffte, dass das stimmte. Behutsam ergriff er das Mädchen bei den Schultern, drehte es mit sanfter Gewalt herum und schob es die verbliebenen drei Stufen die Treppe hinab. »Hier, nehmen Sie sie. Ich glaube, sie hat sich nur erschreckt.«
»Das kann ich ihr nicht verdenken«, antwortete Miss Preussler, griff aber zugleich auch nach dem Handgelenk der jungen Frau und zog sie sanft in ihre Umarmung. Diesmal wehrte sie sich nicht, aber der Anblick alarmierte Mogens trotzdem. Von dem vorsichtigen Vertrauen, das sie zu Miss Preussler gefasst hatte, war nichts mehr geblieben. Sie ließ einfach alles mit sich geschehen.
»Was ist das für ein grässliches... Ding?«, fuhr Miss Preussler mit einem Blick auf die Barke fort. »Sagen Sie nicht, das ist das Boot, von dem Graves gesprochen hat!«
»Ich fürchte, doch«, antwortete Mogens, während er sich behutsam an ihr vorbeischob und dann mit umso weiter ausgreifenden Schritten dem Ufer zustrebte. Er konnte Miss Preusslers Reaktion durchaus verstehen. Vorhin, als er zum ersten Mal hier gewesen war, war es ihm nicht aufgefallen, weil ihn die bloße Tatsache der Entdeckung einfach erschlagen hatte, aber nun sah er, wie unheimlich die Barke tatsächlich war. Wie bei den Bewohnern dieser unterirdischen Welt selbst war der Unterschied nicht wirklich in Worte zu fassen, aber er war da: Alles an diesem fantastischen Gefährt war so, wie es sein sollte, und zugleich auf entsetzliche Weise falsch. Dabei war die Barke noch nicht einmal komplett. Mogens fragte sich, was Miss Preussler wohl gesagt hätte, hätten die beiden lebensgroßen Anubis-Statuen in Bug und Heck gestanden, die er von zahllosen Abbildungen und Miniaturen her kannte.
»Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich auch nur einen Fuß auf dieses gotteslästerliche Ding setze«, sagte Miss Preussler hinter ihm.
»Ich fürchte, uns bleibt keine andere Wahl«, antwortete Mogens abwesend, und ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von der schwarzen Barke zu nehmen: Vielleicht konnte er Miss Preusslers Beunruhigung so gut verstehen, weil ihn der Anblick selbst beunruhigte; mehr, als er trotz allem gedurft hätte. Etwas... hatte sich verändert. Aber er konnte nicht sagen, was. Unstet huschte sein Blick über das nachtfarbene Boot, glitt an den bizarren Konturen und feindseligen Linien entlang und tastete über Winkel und Kanten, die so falsch waren, dass etwas in ihm empört aufschrie. Er spürte etwas, und es lag nicht nur daran, dass er das Boot nun mit anderen Augen betrachtete. Eine... Präsenz. Da war eine Gefahr, die es bisher noch nicht gegeben hatte. Aber es war ihm nicht möglich, sie zu greifen.
Mogens schüttelte den Gedanken ab und sah auf die Uhr. Die Frist, die Graves sich selbst gesetzt hatte, war nahezu verstrichen. Ihm blieben noch weniger als drei Minuten - auch wenn Mogens bezweifelte, dass diese Zeit überhaupt ausreichte, um Miss Preussler und das Mädchen zum Betreten der Barke zu überreden und abzulegen.
»Gibt es denn gar keinen anderen Weg hier heraus?«, fragte Miss Preussler mit zitternder Stimme.
»Ich fürchte, nein«, antwortete Mogens. Er wandte sich halb zu ihr um, eigentlich nur, um ihr einen beruhigenden Blick zuzuwerfen, runzelte aber dann überrascht die Stirn, als er ins Gesicht des Mädchens sah. Sie wirkte noch erschrockener als zuvor. Ihre Augen waren schwarz vor Angst, und ihre Finger hatten sich mit solcher Kraft in das zerlumpte Bündel gekrallt, das sie an die Brust presste, dass sie das Kind mit Sicherheit verletzt hätte, wäre es noch am Leben gewesen. Miss Preussler und er waren nicht die Einzigen hier, die der Anblick der schwarzen Barke mit etwas erfüllte, das über reine Furcht hinausging.
Diese Erkenntnis war nicht neu. Und trotzdem: Etwas daran irritierte ihn, und es verging auch nur noch eine einzige weitere Sekunde, bis ihm klar wurde, was. Die junge Frau starrte gar nicht das Boot an. Ihr Blick war so teilnahmslos darüber hinweggeglitten, als wäre dieses monströse Ding das Selbstverständlichste von der Welt; was es für sie vermutlich auch war. Sie starrte das Wasser an.
Auch Mogens blickte konzentriert auf die schwarz und nahezu unbewegt daliegende Wasseroberfläche hinab, konnte aber keinen Unterschied zu vorhin erkennen. Es gab eine ganz leichte Strömung, gerade genug, um das Wasser, nicht aber etwa das Boot zu bewegen, und vielleicht hatte die Anzahl der haardünnen Algen, die sich unter seiner Oberfläche bewegten, ein wenig zugenommen. Aber das war schon alles.
Mogens warf Miss Preussler einen entsprechenden Blick zu, auf das Mädchen aufzupassen, trat mit einem großen Schritt in die Barke hinein und registrierte erleichtert, dass das Boot unter seinem Gewicht ganz sanft schwankte. Er war froh, dass ihm diese Möglichkeit erst im Nachhinein eingefallen war - aber es hätte gut sein können, dass es sich gar nicht um ein richtiges Boot handelte, sondern vielmehr um eine Skulptur aus Stein, die nur um des authentischen Anblicks willen hier aufgestellt worden war.
»Kommen Sie!«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen!«
»Aber Doktor Graves...«, begann Miss Preussler unsicher.
»Doktor Graves«, unterbrach sie Mogens, während er sich bereits einmal um sich selbst drehte, um nach den Rudern Ausschau zu halten, »hat noch ungefähr zwei Minuten. Wenn er bis dahin nicht zurück ist, fahren wir ab. Er hat es schließlich selbst gesagt.«
»Aber wir können ihn doch nicht einfach im Stich lassen!«, protestierte Miss Preussler.
Mogens sah sie nur überrascht an. Nach allem, was bisher geschehen war, hätte er eine etwas andere Reaktion von ihr erwartet. Der gute Kern, der unter Miss Preusslers sprichwörtlicher rauer Schale schlug, musste wohl noch größer sein, als er bisher geahnt hatte. Und zweifellos hatte sie Recht. Dennoch schüttelte er nur noch einmal entschlossen den Kopf und atmete zugleich innerlich erleichtert auf, als er genau das fand, wonach er Ausschau gehalten hatte: Zwar keine Ruder, aber doch zwei kräftige, mehr als mannslange Stangen, mit denen man das Boot von der Stelle staken konnte.
»Er hat es selbst gesagt«, antwortete er, während er sich bereits nach einer Stange bückte. Sie war unerwartet schwer und fühlte sich so glatt und massiv in seiner Hand an, als bestünde sie aus Metall oder Stein, nicht aus Holz. Mogens musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um sie überhaupt hochheben und ihr Ende ins Wasser hinabgleiten lassen zu können. »Vielleicht sollten wir ausnahmsweise einmal auf das hören, was er sagt.«
Die Stange stieß schon nach einem überraschend kurzen Stück auf Widerstand. Der Kanal war offensichtlich gerade tief genug, dass das Boot darauf schwimmen konnte. Mogens stemmte sich probehalber mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Im allerersten Moment geschah nichts, dann aber löste sich die Barke, langsam, zitternd und so widerwillig wie ein lebendes Wesen, das nicht mit dem einverstanden ist, was von ihm verlangt wurde, vom Ufer und begann sich träge auf der Stelle zu drehen. »Kommen Sie«, sagte er noch einmal. »Es wird Zeit.«
Miss Preussler wäre nicht Miss Preussler gewesen, hätte sie nicht noch ein paar Sekunden verstreichen lassen, in denen sie einfach ihn und das Boot abwechselnd anstarrte, dann aber trat sie mit einem plötzlich entschlossenen Schritt zu ihm herab und zog in der gleichen Bewegung auch das Mädchen mit sich. Mogens hatte fest damit gerechnet, dass sie sich sträuben oder gar wehren würde, aber ihr Widerstand schien endgültig gebrochen zu sein. Fast willenlos folgte sie Miss Preussler, das Bündel mit dem toten Kind weiter fest an die Brust gedrückt und mit leerem Blick, der starr auf die Wasseroberfläche gerichtet blieb. Und ganz plötzlich wurde Mogens auch klar, was er sah: einen Menschen, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Der Augenblick, in dem sie das, was immer sie in diesen schwarzen Fluten auch sehen mochte, noch zu Tode geängstigt hatte, war vorüber. Sie hatte aufgegeben und fügte sich in ihr Schicksal, vielleicht weil ihre Kraft einfach nicht mehr reichte, um zu kämpfen, vielleicht auch, weil sie niemals gelernt hatte, sich zu wehren.