Mogens' Blick folgte dem der jungen Frau. Es war nicht einfach nur das Boot, das sie anstarrte. Die größte Angst hatte sie sichtlich vor dem schwarzen Sarkophag, vielleicht auch vor der monströsen Gestalt, die in seinen Deckel eingraviert war, und Mogens fragte sich, ob sie ein solch monströses Wesen vielleicht schon einmal tatsächlich zu Gesicht bekommen hatte. Noch vor weniger als einer Stunde hätte er einen solchen Gedanken als lächerlich von sich gewiesen, aber jetzt jagte er ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Nehmen Sie die Stange, Miss Preussler«, sagte er. »Bitte.«
»Doktor Graves' Frist ist noch nicht um«, sagte sie stur.
Mogens funkelte sie einen Moment lang wütend an, aber er sagte nichts. Sie hatte ja Recht, auch wenn es sich vermutlich nur noch um wenige Augenblicke handelte; und es ging dabei gar nicht so sehr um Graves. Miss Preussler hatte viel rascher als er begriffen, dass er sich den Rest seines Lebens fragen würde, ob Graves nicht vielleicht doch noch im allerletzten Moment gekommen war. Er hatte einmal in seinem Leben jemanden im Stich gelassen, und er würde es nicht noch einmal tun. Wortlos drückte er ihr die Stange in die Hand, bückte sich nach der zweiten und ging zum Bug der Barke. Etwas wie ein kalter Luftzug schien ihn zu streifen, als er den schwarzen Sarkophag passierte, aber das mochte Einbildung sein. Nicht erst, seit sie dieses Boot betreten hatten, konnte er seinen Sinnen nicht mehr in gewohntem Umgang vertrauen.
Obwohl Miss Preussler die Stange nur lose in den Händen hielt, drehte sich die Barke weiter langsam auf der Stelle, bis der hochgezogene Bug genau in die Richtung wies, in der sich der Kanal in der Dunkelheit verlor, und kam mit einem sachten Zittern zur Ruhe; ein weiterer Zufall, der Mogens einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Aber vielleicht hatte sich das Boot ja auch einfach nur in die Strömung gedreht. Er wäre nicht einmal mehr übermäßig überrascht gewesen, hätte sich die Barke in diesem Moment von sich aus in Bewegung gesetzt, aber sie erzitterte nur noch einmal sacht und kam dann endgültig zur Ruhe, und Mogens rammte seine Stange ins Wasser und sah noch einmal auf das Ziffernblatt seiner Uhr. Graves' Frist war abgelaufen. Wenn sie jetzt aufbrachen, gab es nichts, was er sich hätte vorwerfen können. Graves selbst hätte nicht anders gehandelt. Ganz im Gegenteil - Mogens war nicht einmal sicher, ob er tatsächlich bis zum Ablauf der vereinbarten Frist gewartet hätte, und mit jeder Sekunde, die er weiter verstreichen ließ, setzte er sein Leben und das der beiden Frauen mehr aufs Spiel.
»Was hat... Thomas mit dem Dynamit vor?«, fragte Miss Preussler stockend.
»Etwas sehr Dummes«, antwortete Mogens. »Und ich fürchte, es ist meine Schuld.«
»Wieso?«
»Ich hätte es wissen müssen«, antwortete er halblaut. »Spätestens, als ich diesen gewaltigen Rucksack gesehen habe.«
»Das haben wir alle«, antwortete Miss Preussler. »Und wir alle haben uns gefragt, was er wohl darin trägt - ich habe ja sogar noch meine Scherze darüber gemacht. Aber niemand hat ihn gefragt. Ich auch nicht.«
»Sie wussten ja auch nicht, dass Toms Eltern von diesen Ungeheuern getötet worden sind«, antwortete Mogens bitter. »Ich nehme nicht an, dass er es Ihnen erzählt hat?« Er drehte sich halb zu ihr herum und fuhr fort: »Sie haben seine Mutter entführt und seinen Vater praktisch vor seinen Augen umgebracht. Der Junge hat noch eine Rechnung mit diesen Biestern offen, Miss Preussler.«
»Und jetzt glauben Sie, er will sich rächen«, vermutete sie und beantwortete ihre eigene Frage gleich mit einem Nicken.
»Ich wüsste nicht, wozu er sonst einen ganzen Rucksack voller Sprengstoff brauchte«, sagte Mogens. Er sah zur Treppe hin. Das tanzende Licht ihrer Scheinwerfer gaukelte ihm eine Bewegung vor, die es nicht gab. Keine Spur von Graves. Mogens dachte an die Prozession grauenerregender Missgeburten zurück, die an ihrem Versteck vorbeigezogen war, und seine Hoffnung, Tom oder auch nur Graves noch einmal lebend wiederzusehen, sank noch weiter. Er sah auf die Uhr. Sie waren gute drei Minuten über die Zeit. Er konnte nicht länger warten. Er hatte nicht einmal das Recht dazu. Er spielte nicht nur mit seinem Leben, sondern auch mit dem der beiden Frauen.
Seine Hand schloss sich fester um die Stange, doch statt das Boot damit von der Stelle zu bewegen, ließ er nur den Deckel seiner Taschenuhr mit einem scharfen Knall zuschnappen und steckte sie ein.
»Sie hätten es sich niemals verziehen«, sagte Miss Preussler leise.
»Was?«
»Ihn zurückgelassen zu haben«, antwortete sie. »Es ist richtig, zu warten.« Und als hätte sie seine Gedanken gelesen, fügte sie mit einem schmalen Lächeln noch hinzu: »Gerade weil er es umgekehrt wahrscheinlich nicht getan hätte.«
»Wir können trotzdem nicht mehr lange warten«, antwortete er. »Noch ein paar Minuten.«
Miss Preussler antwortete nicht mehr, aber ihr Blick wurde für einen Moment weich, und das war ihm ein fast größerer Trost als alles, was sie hätte sagen können.
Er wandte sich wieder nach vorne und richtete den Scheinwerfer direkt auf das Wasser. Unter seiner Oberfläche bewegte sich etwas, aber er konnte nicht wirklich erkennen, was. Neugierig und beunruhigt zugleich beugte er sich vor und lenkte den Lichtstrahl unmittelbar neben dem Boot auf die Flut. Es waren die Algen - oder das, was er bisher dafür gehalten hatte, auch wenn ihn der Anblick jetzt mehr an ein Gespinst feiner Haare erinnerte, das sich, einem eigenen, anderen Takt als dem der Strömung gehorchend, träge im Wasser bewegte. Mogens ließ sich in die Knie sinken und streckte die Hand aus, um das sonderbare Gespinst zu berühren, aber irgendetwas warnte ihn, es zu tun. Vielleicht war es die sonderbare Bewegung, die ihm jetzt immer deutlicher auffiel, auch wenn daran nichts wirklich Bedrohliches zu sein schien. Dennoch war es eine Bewegung, die nicht hätte sein dürfen.
Ohne die Finger ins Wasser getaucht zu haben, richtete er sich wieder auf und wollte gerade nach seiner Laterne greifen, um auch die Ufer des Kanals einer etwas genaueren Inspektion zu unterziehen, als er ein Geräusch hörte.
Abrupt fuhr er herum und richtete den Strahl seiner Grubenlampe gerade im richtigen Moment auf die Treppe, um zu sehen, wie Graves hereinstolperte; und das wortwörtlich. Er machte zwei, drei, schließlich vier Schritte, von denen einer größer und ungeschickter war als der andere, fiel schließlich auf Hände und Knie herab und versuchte, den Schwung seiner eigenen Bewegung zu nutzen, um wieder in die Höhe zu springen - wodurch er endgültig nach vorne gerissen wurde und haltlos über den rauen Boden auf das Ufer zuschlitterte.
Hinter ihm stürmte ein Ghoul herein.
Das Ungeheuer überwand die letzten drei oder vier Stufen mit einem einzigen, federnden Satz, mit dem er zwar ebenfalls auf Händen und Knien landete, aber sofort wieder in die Höhe schoss. Mit einem zornigen Knurren fuhr er herum und hielt nach seiner Beute Ausschau. Fänge und Zähne blitzten im kalten Licht des Scheinwerfers, und seine Augen funkelten tückisch. War das Blut, was da von seinen Reißzähnen tropfte?
Mit einem ungeheuerlichen Brüllen stürzte der Ghoul vor, weit nach vorne gebeugt und auf eine groteske Art hüpfend, wie ein absurd großer Affe. Seine Krallen rissen Funken aus dem Stein und verfehlten Graves' Gesicht nur um Haaresbreite. Graves schrie auf, warf sich herum, und der Ghoul stieß mit seinem gewaltigen, klauenbewehrten Fuß nach seinem Gesicht. Graves entging ihm auch dieses Mal mit einer verzweifelten Bewegung, doch der Fuß der riesigen Bestie stanzte mit grausamer Wucht auf seine linke Hand hinab und zermalmte sie.