Graves brüllte vor Schmerz. »Mogens!«, kreischte er. »Schieß!«
Mogens hatte nichts, um zu schießen. Graves musste seine eigene Waffe irgendwo verloren haben, und Toms Gewehr lehnte immer noch oben an der Wand, wo er es zurückgelassen hatte. Mogens konnte ihn nur hilflos anstarren, während Miss Preussler ihre Lampe herumschwenkte und den Strahl direkt ins Gesicht des Ungeheuers richtete. Der Ghoul brüllte wie unter Schmerzen auf, riss die Arme vor das Gesicht, um seine empfindlichen Augen zu schützen und prallte ein Stück zurück, und Graves nutzte die Chance, um sich trotz seiner schrecklichen Verletzung aufzurappeln und weiter auf das Boot zuzustolpern. Der Ghoul knurrte wütend und stürzte ihm nach. Seine Krallen blitzten auf wie winzige, gefährliche Messer. Mogens hörte das Geräusch von reißendem Stoff, das von einem gellenden Schrei aus Graves' Kehle verschluckt wurde, doch Graves stolperte dennoch weiter, erreichte das Ufer und stieß sich mit einer verzweifelten Bewegung ab. Er landete ungeschickt und mit solcher Wucht unmittelbar neben Mogens im Boot, dass die Barke sich fühlbar auf die Seite legte und mit einem schweren Klatschen zurückfiel. Der plötzliche Ruck brachte auch das Mädchen aus dem Gleichgewicht. Es prallte gegen den Sarkophag und stürzte, und auch Mogens kämpfte einen Moment lang mit gespreizten Beinen um seine Balance und gewann diesen Kampf nur, weil er sich mit beiden Händen an der Stange festhielt. Einzig Miss Preussler reagierte mit erstaunlicher Kaltblütigkeit: Das Ungeheuer stürmte brüllend heran, und als es noch zwei Schritte vom Ufer entfernt war, beugte sie sich vor und riss die Stange zur Seite. Der Ghoul registrierte die Gefahr vielleicht noch im letzten Moment und versuchte, sich herumzuwerfen, aber es war zu spät. Er prallte mit nahezu ungebremstem Tempo gegen die Stange, deren Ende noch immer im Schlamm des Kanalbodens steckte. Mogens glaubte die Rippen des Ungeheuers knirschen zu hören, und aus dem wütenden Brüllen des Ghoul wurde ein wimmerndes Röcheln. Das Ungeheuer brach in die Knie, schlang die Arme um den Oberkörper und begann sich langsam zur Seite zu neigen, und Mogens hoffte schon, dass er einfach weiter kippen und ins Wasser stürzen würde. Zu seinem Entsetzen musste er jedoch erkennen, dass sich der Ghoul im letzten Moment wieder fing und sogar damit begann, sich schwankend wieder hochzuarbeiten.
»Miss Preussler!«, brüllte er. »Die Stange! Staken Sie.« Gleichzeitig stemmte auch er sich mit verzweifelter Gewalt gegen die Stange. Das Boot begann zu zittern. Eine einzige, furchtbare Sekunde lang schien es sich gar nicht von der Stelle zu rühren, dann aber setzte es sich schwerfällig in Bewegung.
Der Ghoul war mittlerweile wieder ganz auf die Füße gekommen, aber er musste sich wohl doch schwerer verletzt haben, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Er wankte. Blut lief aus seinem halb offen stehenden Maul. Er hatte sich verletzt, wenn auch wohl nicht schlimm genug. Mogens registrierte voller Entsetzen, wie sich das Ungeheuer zum Sprung spannte. Das Boot hatte sich mittlerweile ein Stück vom Ufer entfernt und wurde schneller, aber längst nicht schnell genug. Selbst Mogens hätte sich zugetraut, es vom Ufer aus mit einem beherzten Satz zu erreichen - für den Ghoul konnte es kaum mehr als ein großer Schritt sein.
Die Bestie stieß sich ab und landete mit solcher Wucht unmittelbar neben Graves in der Barke, dass das Boot zu wanken begann und sich bedrohlich auf eine Seite legte. Mogens musste sich mit aller Kraft an die Stange klammern, um nicht über Bord zu stürzen, und auch der Ghoul kämpfte heulend und mit wild fuhrwerkenden Armen um sein Gleichgewicht. Seine Krallen zischten wie Messer durch die Luft, verfehlten Graves' Gesicht um Haaresbreite - und trafen das tote Kind, das das Mädchen im den Armen hielt! Es wurde ihr einfach entrissen, flog im hohen Bogen durch die Luft und klatschte meterweit entfernt ins Wasser.
Die junge Frau schrie auf, als hätten die rasiermesserscharfen Krallen sie selbst getroffen, wirbelte herum und streckte mit einer verzweifelten Bewegung die Arme aus, wie um es aufzufangen, und Mogens war felsenfest davon überzeugt, dass sie sich im nächsten Sekundenbruchteil ins Wasser stürzen und hinter ihrem Kind her schwimmen würde. Stattdessen fuhr sie mit noch spitzerem, gellenderem Schrei herum und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen gegen den Ghoul. Ihre Fingernägel zerkratzten sein Gesicht, rissen tiefe, blutende Furchen in die lange Schakalschnauze und löschten eines der glühenden Augen aus, und ihr Anprall war so gewaltig, dass sie den ohnehin wankenden Koloss endgültig von den Füßen riss. Haltlos kippte er nach hinten und fiel über Bord. Aber im letzten Moment schlossen sich seine gewaltigen Arme um das Mädchen, sodass er es mit sich riss.
Mogens streckte ebenso entsetzt wie vergeblich die Arme aus, aber er war viel zu weit entfernt, um noch irgendetwas tun zu können. In einer gewaltigen Woge aus aufspritzender Gischt verschwanden das Ungeheuer und die junge Frau im Wasser.
Mit einem einzigen Satz war Mogens in der Mitte des Bootes, und auch Miss Preussler ließ ihre Stange los und balancierte hastig über den schwankenden Grund heran. Fast verzweifelt beugte Mogens sich vor, konnte aber im ersten Moment nichts anderes erkennen als schäumendes Wasser und zwei formlose Schatten, die irgendwo unter seiner Oberfläche miteinander zu ringen schienen. Der Kanal schien zu kochen.
Miss Preussler warf sich vor und versuchte nach dem Mädchen zu greifen, aber Mogens riss sie zurück. Ohne es begründen zu können, wusste er einfach, dass sie dieses Wasser nicht berühren durften.
Plötzlich tauchte eine Hand aus den Wellen auf. Mogens griff ganz automatisch danach, zog mit aller Kraft und schaffte es irgendwie, Kopf und Schultern der jungen Frau über Wasser zu bekommen und griff auch mit der anderen Hand zu, aber das Mädchen machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen, sondern begann sich ganz im Gegenteil mit derselben irrationalen Kraft zu wehren, mit der manche Ertrinkende ihre Retter mit ins Verderben reißen, und tatsächlich war es plötzlich Mogens, der für einen Atemzug darum kämpfte, nicht über Bord gerissen zu werden. Erst, als auch Miss Preussler abermals nach ihrem Arm griff und ihm half, gelang es ihnen mit vereinten Kräften, sie aus dem Wasser und halbwegs an Bord zu ziehen.
Plötzlich aber wurde das Mädchen mit einem harten Ruck zurückgerissen. Ein keuchender Schmerzlaut kam über seine Lippen, und selbst Mogens und Miss Preussler wurden wieder ein Stück nach vorne gerissen. Eine gewaltige Pranke hatte sich um den Unterschenkel des Mädchens gekrallt und versuchte sie mit brutaler Kraft zurückzureißen.
»Jonathan! Hilf uns!«, keuchte Mogens.
Graves hatte sich mittlerweile aufgerappelt und rumorte irgendwo hinter ihnen herum, aber er dachte offenbar gar nicht daran, ihnen zu helfen. Wahrscheinlich war er einfach zu schwer verletzt. Mogens verdoppelte seine Anstrengungen, das Mädchen zu sich über die Bordwand zu ziehen, und auch Miss Preussler zerrte und zog nach Kräften. Der Ghoul umklammerte ihr Bein noch immer mit unerbittlichem Griff, aber seine Kraft war nicht so unwiderstehlich, wie Mogens befürchtet hatte. Das Ungeheuer wirkte benommen. Rings um seinen Schädel herum kochte das Wasser noch immer, aber der Schaum hatte sich rosa gefärbt. Blut quoll in Strömen aus seiner leeren Augenhöhle, und seine Bewegungen wirkten benommen und trotz aller Kraft fahrig und ziellos. Vielleicht hatte es sich an der Wand des Kanals den Schädel angeschlagen, oder seine Verletzung war schwerer, als es den Anschein hatte.
Dennoch gelang es nicht einmal seinen und Miss Preusslers vereinten Kräften, das Mädchen vollends an Bord zu ziehen. Ganz im Gegenteiclass="underline" Die junge Frau klammerte sich mit so verzweifelter Kraft an die niedrige Bordwand, dass ihre Fingernägel abbrachen und sich das Wasser auch hier blassrosa zu färben begann, und auch Mogens und Miss Preussler zogen und zerrten mit aller Gewalt. Trotzdem wurde sie, ganz langsam, aber auch mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit, wieder zurück ins Wasser gezerrt. Das Boot begann sich immer weiter zu neigen, und Mogens spürte, wie seine Kräfte im gleichen Maße nachließen, wie die des Ungeheuers zuzunehmen schienen. Das Monster stieß jetzt ein lang gezogenes, schreckliches Heulen aus, in dem sich Wut, Schmerz und noch etwas Anderes, Schlimmeres mischten, und als Mogens instinktiv in seine Richtung sah, überlief ihn ein neuerlicher, eisiger Schauer. Erst jetzt sah er, dass das Ungeheuer über und über mit Fäden des dünnen, glitzernden Tangs bedeckt war, die außerhalb des Wassers eher fleischfarben bis weiß zu schimmern schienen, statt schwarz, und ihn nun mehr denn je an Haar erinnerten. Die Berührung musste ihm unangenehm sein, denn es benutzte nur eine Hand, um das Mädchen festzuhalten, während es mit der anderen immer hektischer versuchte, das glitzernde Geflecht von seinem Gesicht und seinen Schultern zu reißen. Dennoch zerrte es unbarmherzig weiter am Bein des Mädchens. Das Boot neigte sich weiter, und Mogens wurde mit schrecklicher Gewissheit klar, dass der Ghoul die Barke eher zum Kentern bringen oder das Bein seines Opfers herausreißen würde, bevor er losließ.