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Mogens kämpfte seine Furcht nieder, schloss die Hände um die Stange, die Graves fallen gelassen hatte, und balancierte hastig zum Heck der Barke. Das Boot musste in die Strömung geraten sein, denn sie hatten sich schon ein gutes Stück von der Stelle entfernt, an der der Ghoul ins Wasser gefallen war, aber sie bewegten sich erbärmlich langsam. Wenn ein weiteres Ungeheuer auftauchte, dann waren sie verloren. Der Kanal war einfach nicht breit genug!

Der Gedanke spornte Mogens noch einmal an. Entschlossen rammte er das Ende der Stange ins Wasser und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Im allerersten Moment geschah nichts. Das Boot zitterte widerwillig auf der Stelle und schien ganz im Gegenteil sogar langsamer zu werden, statt Fahrt aufzunehmen, und eine rasche, irgendwie lebendig wirkende Bewegung lief durch die Masse der Fäden. Tastend, wie eine neugierig suchende Hand wickelten sich zwei, drei aus jeweils hunderten einzelner Fäden bestehenden Stränge um die Stange, krochen zu Mogens' Entsetzen sogar ein gutes Stück weit daran empor und fielen dann mit einem hörbaren Klatschen ins Wasser zurück, als hätten sie den Eindringling in ihr nasses Reich einer flüchtigen Prüfung unterzogen und dann schlagartig das Interesse an ihm verloren.

Vielleicht, weil er nicht lebendig war, dachte Mogens schaudernd. Was immer dieses Zeug auch war - es war ganz gewiss kein Tang oder irgendein anderes, unbekanntes Gewächs. Es war lebendig, und es hatte ganz eindeutig einen eigenen Willen. Vielleicht hatte es kein eigenes Bewusstsein, aber es folgte mindestens einem starken Instinkt, ein womöglich vernunftloses, aber deshalb nicht minder gefährliches Raubtier, das blind nach Beute tastete.

»Mach schneller, um Himmels willen!«, keuchte Graves hinter ihm. »Sie müssen gleich hier sein!«

Mogens fragte vorsichtshalber nicht, wen Graves damit meinte. Stattdessen stemmte er sich mit verzweifelter Kraft gegen die Stange, und endlich setzte sich die Barke ganz allmählich in Bewegung. Quälend langsam zuerst, dann aber rasch schneller werdend, drehte sich der aufwärts geschwungene Bug vollends in die Strömung und nahm Fahrt auf. Es bewegte sich nicht wirklich schnell, aber es bewegte sich.

»Mogens! Komm her«, befahl Graves.

Mogens stemmte sich mit nur noch größerer Verbissenheit gegen die Stange, ohne das Boot damit nennenswert weiter beschleunigen zu können. Er sah immerhin über die Schulter zurück und erblickte Miss Preussler, die mit leichenblassem Gesicht auf ihn zusteuerte. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, nahm sie ihm die Stange aus den Händen und rammte sie mit solcher Kraft ins Wasser, dass die Barke nicht nur spürbar zitterte, sondern auch deutlich schneller wurde.

»Gehen Sie!«, raunte sie ihm zu. »Ich will nicht, dass Sie zu lange mit ihm allein ist.«

Mogens zögerte. »Sind Sie sicher, dass Sie...«, begann er.

Miss Preussler rammte die Stange noch einmal ins Wasser, und das Boot wurde abermals schneller. Sie sagte nichts, und Mogens wandte sich ohne ein weiteres Wort um.

Graves gestikulierte ihm ungeduldig zu, sich zu beeilen, während er zugleich mit spitzen Fingern einige lose Fäden abpflückte und über Bord warf, die an seinen Handschuhen haften geblieben waren. Ein leises Gefühl von Übelkeit stieg in Mogens auf, als er Graves' linke Hand sah. Der Ghoul hatte sie ihm regelrecht zerquetscht. Die Nähte des schwarzen Handschuhs waren aufgeplatzt, und etwas Weißes, Feuchtes quoll hervor. Graves schien es nicht einmal zu merken.

Wortlos riss er Mogens' Hände an sich, drehte sie hin und her und schüttelte dabei ununterbrochen den Kopf. »Irrsinn«, murmelte er immer wieder. »Was für ein Irrsinn.«

Mogens konnte gar nichts anderes tun, als die Tortur mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen zu lassen. Seine Hände brannten immer noch wie Feuer. Graves' Berührung tat so weh, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Er konnte nur mit Mühe ein gequältes Wimmern unterdrücken.

»Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht?«, fuhr ihn Graves an. Sein Mitleid hielt sich offensichtlich in Grenzen. »Weißt du nicht, was dir passieren kann, wenn du dieses Teufelszeug anfasst?«

»Nein«, antwortete Mogens gepresst. »Woher auch?«

Graves verzog abfällig die Lippen, griff zu, und Mogens schrie vor Schmerz auf, als er etwas wie einen dünnen, sich windenden weißen Faden aus dem Fleisch seines Handrückens riss und über Bord warf. Die Wunde begann fast augenblicklich zu bluten, aber Graves gab sich damit keineswegs zufrieden, sondern untersuchte seine Hände akribisch noch ein zweites und sogar drittes Mal, bevor er ihn endlich losließ. Der Zorn in seinem Blick hatte kein bisschen ab-, sondern eher noch zugenommen.

»Du hast mehr Glück als Verstand«, sagte er kopfschüttelnd. »Warst du vielleicht scharf auf Hände wie diese?« Er hob die behandschuhten Hände und spreizte die Finger. Unter dem schwarzen Leder schien etwas zu pulsieren. Etwas, das heraus wollte.

Statt zu antworten - und wenn er ehrlich war, hauptsächlich, um dem grässlichen Anblick von Graves' zerquetschter Hand zu entrinnen -, beugte sich Mogens zu dem Mädchen hinab und streckte die Hände nach ihren Beinen aus, aber er wagte es nicht, sie zu berühren; nicht nur, weil das Mädchen zusammenfuhr und erschrocken ein Stück vor ihm davonkroch, sondern vor allem wegen des entsetzlichen Anblicks, den sie boten. Füße, Waden und Schienbeine der jungen Frau sahen aus wie gehäutet. Die grässlichen Tentakel hatten tiefe, blutige Striemen in ihrer Haut hinterlassen, und Dutzende winziger, heftig blutender Wunden.

»Keine Sorge«, sagte Graves spöttisch. »Sie wird vielleicht ein paar Narben zurückbehalten, aber mehr nicht. Ich glaube, ich habe sie alle gefunden.«

»Du glaubst?«, fragte Mogens.

Graves hob die Schultern. »Also gut: Ich bin mir sicher«, verbesserte er sich. »Bist du jetzt zufrieden?«

»Nein«, antwortete Mogens scharf. Er stand auf. »Es wäre vielleicht ganz hilfreich gewesen, wenn du uns von Anfang an gesagt hättest, wie gefährlich dieses Teufelszeug ist.«

»Ich konnte nicht ahnen, wie nahe wir ihm kommen würden«, antwortete Graves ungerührt. »Wenn ich dich über jede Gefahr informiert hätte, auf die wir hier unten möglicherweise stoßen, dann säßen wir jetzt noch oben im Lager beisammen.« Er schnitt Mogens mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. »Genug jetzt. Niemand ist ernsthaft zu Schaden gekommen, das ist ja wohl die Hauptsache.«

»Niemand außen dir.« Mogens machte eine Kopfbewegung auf Graves' zerquetschte Hand. Graves runzelte die Stirn und sah ihn einen Herzschlag lang mit einem Ausdruck vollkommener Verständnislosigkeit an. Dann folgte er seinem Blick und fuhr leicht zusammen.

»Ach das«, sagte er. »Das ist halb so wild. In ein paar Tagen sieht man nichts mehr davon.«

Mogens' Magen begann zu revoltieren, als er den Arm hob und die Hand vor dem Gesicht hin und her schlenkerte, als würde das allein seinen Worten mehr Glaubhaftigkeit verleihen. Der Handschuh bewegte sich wie ein nasser Sack, der mit einem zähflüssigen Brei gefüllt war. Weißer Schleim tropfte aus den aufgeplatzten Nähten und zog dünne, glitzernde Fäden hinter sich her. »Siehst du?«, sagte Graves mit einem breiten Grinsen, das zweifellos keinen anderen Ursprung hatte als den, dass man Mogens deutlich ansah, was er bei diesem Anblick empfand. »Alles in Ordnung.«

Mogens konzentrierte sich wieder hastig auf Miss Preussler und die junge Frau, schon, weil er befürchtete, sich sonst im nächsten Moment übergeben zu müssen. Auch Miss Preussler sah zu Graves hin, und der Ausdruck in ihren Augen spiegelte mindestens genau so großen Ekel wie den, den er selbst empfand, auch wenn der weniger Graves' Hand zu gelten schienen, als vielmehr ihm selbst und seinem Benehmen.

»Sie sind uns dennoch eine Erklärung schuldig, Doktor Graves«, sagte sie plötzlich. Obwohl sie sich vorsichtig bewegte, schwappte bei jedem Schritt Wasser zu ihnen herein, in dem glitzernde schwarze Fäden trieben. Bisher war ihnen keiner davon auch nur nahe gekommen, aber Mogens konnte sich des schrecklichen Eindrucks nicht erwehren, eine tausendfingerige Hand zu beobachten, die vielleicht langsam, aber auch überaus aufmerksam zu ihnen hereintastete. Auch sie hatte den unheimlichen Eindringling bemerkt, und obwohl sie sich bemühte, möglichst ruhig zu klingen, konnte sie die Furcht doch nicht ganz verhehlen, mit der sie der Anblick erfüllte.