»Ganz wie Sie meinen, meine Liebe«, seufzte Graves. Er hatte offensichtlich keine Lust, weiter über dieses Thema zu reden, vielleicht auch nur nicht mit ihr.
Miss Preussler schien jedoch nicht gewillt, so leicht aufzugeben. Sie setzte zu einer verärgerten Antwort an - und aus dem Sarkophag drang ein leises, scharrendes Kratzen.
Mogens richtete sich kerzengerade auf, und auch Graves fuhr herum und starrte den Sarkophag aus aufgerissenen Augen an.
»Was...?«, begann Miss Preussler, wurde aber sofort von Graves unterbrochen.
»Still!«, zischte er. »Schweigen Sie!«
Erstaunlicherweise sprach Miss Preussler tatsächlich nicht weiter, löste aber das Mädchen behutsam aus ihren Armen und richtete sich auf.
Mogens lauschte mit klopfendem Herzen. Das Geräusch wiederholte sich nicht, aber es hätte der Reaktion der anderen nicht bedurft, um ihn davon zu überzeugen, dass er es sich nicht nur eingebildet hatte. Es war nicht laut gewesen, aber so durchdringend wie eine Messerklinge: der Laut stahlharter Krallen auf kaum weniger hartem Holz, und war da nicht auch etwas wie ein ganz leises, schweres Atmen gewesen?
»Was war das?«, fragte Miss Preussler noch einmal.
»Nichts«, antwortete Graves.
»Danach hörte es sich aber gar nicht an«, beharrte sie.
»Es war aber nichts!« Graves wurde wütend. »Das Holz arbeitet, oder sonst was. Bitte, Miss Preussler - unsere Lage ist schlimm genug, auch ohne dass wir uns selbst verrückt machen.« Er versuchte, seinen Worten im Nachhinein mit einem Lächeln noch etwas von ihrer Schärfe zu nehmen, was ihm aber nicht wirklich gelang; vor allem nicht, als er zu ihnen zurückkam und sich dabei bemühte, in so großem Abstand an dem schwarzen Sarkophag vorüberzugehen, wie er nur konnte. Auch Miss Preussler sagte nichts mehr, aber der Blick, mit dem sie die geschnitzte Figur auf dem Sarkophagdeckel maß, sprach Bände. Nach einem Moment drehte auch sie sich wieder herum und ging zu ihrem Platz zurück. Das Boot schwankte bedenklich, als sie sich wieder setzte, um das Mädchen in die Arme zu schließen.
Das unheimliche Geräusch wiederholte sich nicht - wenigstens nicht innerhalb der nächsten halben Stunde, in der die Barke in gleichmäßigem Tempo und fast ruhig dahinglitt. Niemand sprach. Das sonderbare Schleifen, das Mogens so beunruhigt hatte, wurde allmählich leiser und verstummte dann irgendwann ganz, ohne dass er seine Herkunft ergründet hätte, und es wurde allmählich kälter. Dann und wann schwappte eine Welle herein, sodass das Boot ganz langsam voll zu laufen drohte, ohne dass sie irgendetwas dagegen tun konnten. Sie hatten nichts, um zu schöpfen, und es mit bloßen Händen zu versuchen, verbot sich von selbst. Die allmählich größer werdende Pfütze war voller wehender Haare, und auch, wenn Graves behauptet hatte, sie wären im Grunde harmlos, wagte es doch keiner, diese Behauptung auf die Probe zu stellen. Nicht einmal er selbst.
Vielleicht würden sie es ausprobieren müssen, ob sie wollten oder nicht, dachte Mogens besorgt.
Dann und wann stieß das Boot gegen ein Hindernis, das unter der Wasseroberfläche verborgen war, oder scharrte über den Grund des Kanals, und diese Gelegenheiten - obschon selten - schienen mehr zu werden, für Mogens ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die Barke entweder allmählich voll lief und somit tiefer im Wasser lag, oder der Wasserstand des Kanals selbst fiel. Mogens, der zeit seines Lebens auf dem festen Land geblieben war und keinerlei Erfahrung mit dem Meer hatte, grübelte eine Weile ergebnislos darüber nach - hauptsächlich, um sich zu beschäftigen -, wie weit der Wasserspiegel wohl noch fallen mochte, bis die Ebbe ihren niedrigsten Stand erreicht hatte. Schon als sie losgefahren waren, hatte unter dem Boot allerhöchstens ein halber Meter Wasser gelegen, jetzt konnte es kaum noch eine Handbreit sein, und wie die scharrenden Geräusche bewiesen, unter denen die Barke dann und wann erzitterte, nicht einmal mehr das überall. Zweifellos hatten die Konstrukteure des Kanals diesen Umstand einkalkuliert - aber hatten sie auch die Möglichkeit berücksichtigt, dass das Boot mit dem zusätzlichen Gewicht von vier Menschen belastet wurde?
»Dort vorne ist etwas«, drang Graves' Stimme in seine Gedanken. Mogens setzte sich gerade auf und sah in die entsprechende Richtung, aber er erkannte nichts anderes als das, was die ganze Zeit über da gewesen war: Dunkelheit. Auch Miss Preussler richtete sich etwas weiter auf und sah ihn fragend an, bekam aber nur ein angedeutetes Achselzucken zur Antwort.
Graves wedelte mit der freien Hand und schwenkte seine Lampe herum. Selbstverständlich stach ihnen der Lichtstrahl dabei in die Augen, sodass er im allerersten Moment nichts als weiße Lichtblitze und dann allmählich verblassende, grüne Nachbilder auf den Netzhäuten sah. Er schrieb Graves in Gedanken einen weiteren Minuspunkt gut, sparte sich aber jeden Kommentar und wartete geduldig, bis er wieder richtig sehen konnte.
Im allerersten Moment war er nicht einmal sicher, ob ihm seine Augen nicht nur einen weiteren Streich spielten, denn alles, was er sah, war ein verwaschener grauer Fleck, der ununterbrochen seine Form zu verändern schien und manchmal auch ganz verschwand.
»Und?«, fragte Miss Preussler.
»Wir haben es geschafft«, antwortete Graves aufgeregt.
»Geschafft?«, wiederholte Miss Preussler bitter. »Sie meinen, Thomas hat sein Ziel nicht erreicht?«
»Vermutlich«, antwortete Graves kühl. »Wäre es anders, dann wären wir jetzt nicht mehr am Leben und viele andere Menschen ebenfalls. Wäre Ihnen das lieber?«
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Miss Preussler spröde. »Aber ich will diese Rechnung auch nicht machen. Sie gestatten, dass es mir trotzdem um den Jungen Leid tut.«
»Mir auch, Miss Preussler«, antwortete Graves, und es klang sogar durchaus ehrlich. Dann aber machte er eine wegwerfende Handbewegung und sprach in wieder begeistertem Ton weiter: »Verstehen Sie denn nicht? Das da vorne muss der Ausgang sein! Das ist Tageslicht!« Tatsächlich hatte der blassgraue Schimmer eindeutig mehr Ähnlichkeit mit matter Dämmerung statt mit dem grünen Geisterlicht, das die unterirdische Welt ansonsten erfüllte. Trotzdem sah Miss Preussler ihn zweifelnd an. »Tageslicht? Aber das...«
»... würde bedeuten, dass es draußen schon hell geworden ist«, unterbrach Graves sie aufgeregt. »Wir waren wohl länger unterwegs, als ich dachte, welche Rolle spielt das schon? In ein paar Minuten sind wir draußen. Wir haben es geschafft!«
Mogens tat sich schwer damit, sich von Graves' Begeisterung anstecken zu lassen. Natürlich war er erleichtert, aber er rechnete im Kopf auch nach und kam auf allerhöchstens zwei Stunden, die vergangen sein konnten, seit sie das Tor in der Tempelkammer durchschritten hatten. Auch wenn Zeit die sonderbare Eigenschaft hatte, scheinbar langsamer zu verstreichen, je gefährlicher die Ereignisse waren, so konnte es draußen noch nicht Tag sein.
»Anscheinend gelten unsere Regeln hier nicht mehr in gewohnter Weise«, sagte Graves, als er seinen zweifelnden Blick bemerkte und richtig deutete. »Zerbrich dir später den Kopf darüber, Mogens. Alles, was jetzt zählt ist, dass wir es geschafft haben.«
Mogens war sich dessen ganz und gar nicht sicher. Der graue Fleck aus verwaschener Helligkeit wurde allmählich größer und auch deutlicher, nun, wo Graves nicht mehr mit seiner Lampe in seine Richtung fuchtelte. Aber irgendetwas stimmte damit nicht.
Wieder tauschten er und Miss Preussler einen raschen Blick, und diesmal war Mogens sicher, in ihren Augen eindeutig mehr als nur Beunruhigung zu erkennen. Und er zweifelte auch plötzlich daran, dass sie das Mädchen nur so fest an sich presste, um ihr das Gefühl von Wärme und Sicherheit zu vermitteln. Vielleicht war diese Geste nicht nur einseitig. Spätestens seit dem zurückliegenden Morgen hatte er endgültig begriffen, wie stark diese Frau war - aber das musste nicht bedeuten, dass sie nicht manchmal auch selbst etwas von dem Schutz und der Stärke brauchte, die sie so überreichlich zu verteilen im Stande war.