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»Professor«, sagte Miss Preussler beunruhigt.

»Ich weiß«, antwortete Mogens nervös. »Jonathan...«

Graves machte eine herrische Bewegung, still zu sein. Mogens konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Sein Blick tastete immer unsteter und fahriger über das Ufer, und Mogens konnte ihm deutlich ansehen, dass er etwas ganz Bestimmtes suchte.

Er konnte ihm ebenso deutlich ansehen, dass er es nicht fand.

»Jonathan«, sagte er noch einmal. Aus dem Innern des Sarkophags drang ein Scharren, dann ein lautstarkes, dumpfes Poltern.

»Wir... wir müssen schwimmen«, antwortete Graves. Der Ton in seiner Stimme war pure Verzweiflung.

Mogens ächzte. »Bist du verrückt?«

»Es ist der einzige Weg«, beharrte Graves. »Ich dachte, es gäbe hier...« Er sprach nicht weiter. Panik flackerte in seinen Augen, während er sich mit immer hektischeren Bewegungen im Kreis drehte und das Ufer nach etwas absuchte, das ganz eindeutig nicht da war. Trotz ihrer fast perfekten Kuppelform war diese Höhle nichts anderes als eine Höhle, kein künstlich errichtetes Gebäude. Vielleicht hatte es auf dem schmalen Uferstreifen einmal Statuen oder Standbilder gegeben, doch wenn, dann waren sie längst Opfer der Zeit geworden. Zernagter Stein und willkürliche Formen aus schwarzem Fels, das war alles, was er erblickte. Kein Ausgang.

»Jonathan!«, sagte er zum dritten Mal, und diesmal klang seine Stimme eindeutig hysterisch. Aus dem Sarkophag antwortete ein Laut wie das Scharren von Stahl auf Stein.

»Wir müssen schwimmen«, beharrte Graves. »Es ist der einzige Weg!« Er deutete auf das graue Licht im Wasser. »Die Höhle muss eine Verbindung nach draußen haben! Sieh doch selbst!«

Schwimmen? Mogens sträubten sich allein bei dem bloßen Gedanken die Haare. Graves musste endgültig den Verstand verloren haben. Selbst ohne den Vorhang aus träge wehenden Fäden im Wasser wäre es unmöglich gewesen, die Höhle auf diesem Weg zu verlassen. Zweifellos gab es eine unterseeische Verbindung zum offenen Meer, wie das Licht tatsächlich bewies, aber der Durchlass musste fünf, vielleicht auch zehn Meter unter Wasser liegen!

Das Boot begann sich immer rascher zu drehen, als wäre es in den Griff eines Strudels geraten, der es nun immer unbarmherziger in die Tiefe zu ziehen begann. Aber da war kein Strudel. Der See lag vollkommen ruhig und glatt da, und einzig die winzigen Wellen, die von der Bewegung der Barke selbst verursacht wurden, kräuselten seine Oberfläche.

Dann erkannte Mogens, dass er sich getäuscht hatte. Es gab eine Bewegung, aber sie stammte nicht vom Wasser. Es war das haarfeine Gespinst, in dessen trägem Hin und Her sich plötzlich ein Muster abzuzeichnen begann. Der Vergleich mit einem Strudel hatte sich Mogens nicht von ungefähr aufgedrängt. Was bisher ein willkürliches, unsicheres Tasten, Suchen und Gleiten gewesen war, wurde allmählich zu einer großen, kreisförmigen Bewegung, in der sich Millionen und Millionen haarfeiner glitzernder Stränge zu einem einzigen, wogenden Kreis zusammenschlossen, der sich allmählich schneller zu drehen begann - und in dessen exaktem Zentrum sich die Barke befand!

»Weg!«, brüllte Graves. »Schwimmt zum Ufer!«

Aber es war zu spät. Ein Zischen erklang, ein Geräusch wie Millionen Wassertropfen auf einer gigantischen Herdplatte, und plötzlich schoss ein Wald aus peitschenden dünnen Fäden um sie herum aus dem Wasser. Graves prallte zurück, hob in einer vollkommen sinnlosen Geste schützend die Hände vor das Gesicht und stolperte gegen den Sarkophag, der trotz seines enormen Gewichtes unter dem Anprall sichtbar erzitterte. Der Deckel rutschte mit einem scharrenden Laut zur Seite und fiel über Bord.

Darunter erwachte ein Albtraum.

Es war die lebendig gewordene Ausgabe des Reliefs auf dem Sarkophagdeckel, nur dass die Kreatur ungleich größer war, ein Koloss, gegen den selbst die Ghoule zwergenhaft gewirkt hätten, mehr als zwei Meter groß und ungeheuer massig; ein Gigant, der selbst in dem gewaltigen Sarkophag kaum Platz gefunden haben konnte. Sein Körper ähnelte tatsächlich dem eines Menschen, auch wenn er so übermäßig muskulös war, dass es schon fast grotesk wirkte. Anstelle von Händen hatte er jedoch zwei gewaltige Krebsscheren, und sein Kopf war ein schierer Albtraum: ein zuckender Wust aus Tausenden und Abertausenden dünner peitschender Tentakel, einer grotesken Seeanemone mit viel zu vielen Ärmchen gleich, aus dem zwei gewaltige, von unstillbarer Bosheit erfüllte Augen herausglotzten, die trotz allem auf unheimliche Weise menschlich aussahen und vielleicht gerade deshalb umso schrecklicher wirkten. Darunter schnappte ein gewaltiger, gefährlich gebogener Papageienschnabel, in dem sich eine fleischige Zunge bewegte. All das war aber nichts gegen das, was Mogens beim Anblick des Ungeheuers fühlte. Die Kreatur verströmte Feindseligkeit wie einen giftigen Geruch, der Mogens wortwörtlich den Atem abschnürte. Es war nicht einmal so sehr sein Äußeres, das Mogens bis auf den Grund seiner Seele entsetzte. Er hatte hässlichere und ungleich abstoßendere Geschöpfe zu Gesicht bekommen - aber niemals ein Wesen, das so durch und durch fremd war. Alles in ihm schrie gequält auf. Der Anblick der absurden Kreatur war so vollkommen falsch, dass sich jeder Deut von Mogens' Menschsein einfach weigerte, auch nur die bloße Tatsache seiner Existenz zu akzeptieren.

Graves fuhr mit einem gellenden Schrei herum und schlug mit seiner Lampe nach dem Koloss, kein bewusster oder gar überlegter Angriff, sondern ein blinder Reflex - mit katastrophalen Folgen. Die Lampe traf eine der hochgerissenen Scherenhände des Monsters und zerbarst. Blut von sonderbar falscher, unangenehmer Farbe spritzte, und bevor die Laterne endgültig erlosch, setzte sie einen Teil des Tentakelkranzes in Brand, der den Schädel der Albtraumkreatur säumte. Das Ungeheuer brüllte auf, ein schriller, zwitschernder Laut, eher wie das Trällern eines Vogels als wie ein Laut, den ein so offensichtlich dem Meer entstammendes Geschöpf ausstößt, wandte sich mit einem schwerfälligen Schritt vollends zu Graves um und streckte die grässlichen Scherenhände aus, in einer Bewegung, die langsam und schwerfällig wirkte, in Wahrheit aber so schnell war, dass das Auge ihr kaum zu folgen vermochte. Graves riss schützend die Arme vor das Gesicht, und die grausamen Krebsscheren schnappten nach seinen Armen und schnitten ihm beide Hände dicht unterhalb der Gelenke ab.

Graves kreischte, ein einzelner, spitzer Schrei, der ebenso plötzlich wieder abbrach, starrte seine Armstümpfe an, aus denen Blut in zwei hellroten, pulsierenden Fontänen schoss, und kippte dann rücklings über Bord, und das Ungeheuer fuhr mit peitschenden Tentakeln und schnappenden Scheren herum und stampfte auf Mogens und die beiden Frauen zu. Ein Teil seines Schädels und seine linke Schulter brannten, und in seinen Augen loderte eine Mischung aus Qual, Zorn und einem unstillbaren Hass auf alles Lebendige und Fühlende, die Mogens auf der Stelle lähmte. Dann...

Es begann mit einem ganz sachten Erzittern, kaum mehr als ein flüchtiges Schaudern, das durch das Wasser lief. Die Erschütterung reichte nicht einmal aus, die Oberfläche des Sees zu kräuseln oder die schmale Kielspur der Barke zu zerstören.

»Thomas«, sagte Miss Preussler leise.

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, lief eine zweite, heftigere Erschütterung durch den See. Selbst das Ungeheuer blieb stehen und sah irritiert - oder beunruhigt - den Tunnel an, aus dem sie gekommen waren. Hier und da begann das Wasser zu sprudeln, als wäre seine Temperatur schlagartig bis nahe an den Siedepunkt erhöht worden, und die Barke drehte sich jetzt nicht nur im Kreis, sondern begann spürbar zu schwanken. Mogens hielt instinktiv die Luft an und streckte gleichzeitig die Hände aus, um sich irgendwo festzuklammern, aber das Schwanken hörte auf, noch bevor er auch nur wirklich erschrecken konnte, und auch das sprudelnde Wasser beruhigte sich fast augenblicklich wieder. Die Fäden bewegten sich noch einen Moment unruhig, wie Schilf, mit dem der Wind spielt, und kamen dann ebenfalls zur Ruhe.