Auch wenn es ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war, konnte er doch nur wenige Sekunden unter Wasser gewesen sein. Die Höhle wankte noch immer. Ein gewaltiger, gezackter Riss spaltete die steinerne Kuppel über seinem Kopf in zwei ungleiche Hälften. Aus dem Kanal, der sie hierher geführt hatte, quollen dichte Rauchwolken, in denen es immer wieder grellweiß und orangerot aufblitzte. Der ganze See schüttelte sich. Die Barke trieb, kieloben und in Stücke zerbrochen, nur ein kleines Stück neben ihm. Weder von Miss Preussler und dem Mädchen noch von Graves war irgendeine Spur zu sehen.
Dann erblickte er eine Gestalt am Ufer.
Sie stand hoch aufgerichtet und vollkommen reglos da, scheinbar unberührt von dem Chaos aus stürzenden Felsen, Staub und hochspritzendem Wasser, kaum mehr als ein Schatten, und winkte ihm zu, und obwohl Mogens ihr Gesicht nicht einmal schemenhaft sehen konnte, erkannte er sie dennoch sofort.
Es war Janice.
Natürlich war es vollkommen unmöglich. Selbst in dem hysterischen Zustand, in dem sich Mogens befand, war ihm klar, dass er einer Halluzination erlag. Janice war tot, neun Jahre zuvor und hunderte von Meilen entfernt gestorben, und selbst wenn nicht, so konnte sie auf gar keinen Fall hier sein, und schon gar nicht jetzt. Etwas in ihm wollte sie sehen, so einfach war das.
Und trotzdem zögerte Mogens keine Sekunde, in Richtung des Phantoms loszuschwimmen.
Die Distanz zum Ufer betrug vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig Meter, selbst für einen ungeübten Schwimmer wie ihn keine unüberwindliche Entfernung. Aber rings um ihn herum regneten noch immer Steine von der Decke. Das eigentliche Beben war längst vorüber. Erdbeben, selbst solche von extremer Stärke, währen selten länger als wenige Sekunden, und seit der erste Erdstoß den See getroffen hatte, mussten trotz allem Minuten vergangen sein. Dennoch erzitterte das Wassers, durch das er schwamm, noch immer ununterbrochen, und der Felsendom über seinem Kopf bewegte sich. Ein unheimliches Knistern und Stöhnen erfüllte die Luft, und von Zeit zu Zeit lösten sich noch immer Steine aus dem instabil gewordenen Gefüge und stürzten ins Wasser herab. Vielleicht würde die ganze Höhle zusammenbrechen. Auch wenn Mogens nicht besonders viel von Geologie verstand, so schätzte er den Erdstoß doch als hart genug ein, um den Felsendom nachhaltig in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Mogens wäre gern schneller geschwommen, wagte es aber nicht. Das Wasser war voller wehender, dünner Haarfäden. Zwar schien das unheimliche Gespinst keinerlei Notiz von ihm zu nehmen, aber seine Berührung war selbst im Wasser noch unangenehm schmerzhaft, wie die Nesselfäden einer monströs großen Qualle, und er hatte Angst, sich in dem Geflecht zu verfangen und einfach zu ertrinken. Das Wasser war entsetzlich kalt, und es schien mit jeder Sekunde, die er sich weiter darin aufhielt, noch kälter zu werden. Mogens zwang sich dennoch, mit ruhigen, langsamen Zügen zu schwimmen, und irgendwie gelang es ihm sogar, das unregelmäßige Bombardement aus Felsbrocken und Steinen zu ignorieren, das rings um ihn herum niederprasselte. Wenn ihn eines der heimtückischen Geschosse traf, war er ohnehin verloren.
Unversehrt, aber vollkommen erschöpft erreichte Mogens das flache Ufer und zog sich gerade weit genug hinauf, dass sein Gesicht nicht mehr im Wasser lag, bevor er zusammenbrach und nichts anderes tat, als einfach dazuliegen und zu atmen und das herrliche Gefühl zu genießen, sich nicht zu ununterbrochener qualvoller Bewegung zwingen zu müssen, um nicht in die Tiefe gesogen zu werden.
Aber er wusste auch, dass er sich diesem Luxus nicht hingeben durfte. Er war so erschöpft, dass es beinahe wehtat, und die Kälte hatte noch zusätzlich jedes bisschen Kraft aus seinen Gliedern gesogen. So absurd es ihm auch selbst vorkam - es bestand durchaus die Gefahr, dass er schlichtweg einschlief, wenn er noch länger hier liegen blieb, um nie wieder aufzuwachen.
Aber er war so unendlich müde.
Er musste ja nicht einschlafen. Vielleicht reichte es ja schon, wenn er nur für ein paar Sekunden die Augen schloss, seinem Körper nur einen Moment der Entspannung gönnte, zwei oder drei Atemzüge, nur gerade genug, um das bisschen Kraft zu schöpfen, das er brauchte, um die wenigen Schritte bis zu dem rettenden Spalt im Felsen zurückzulegen. Eine Sekunde, vielleicht zwei, das war alles, was er brauchte.
Jemand rief seinen Namen, und als er nicht sofort darauf reagierte, berührte ihn eine kühle Hand an der Wange und strich dann sanft über sein Gesicht.
Mogens fuhr mit einer erschrockenen Bewegung hoch. Sein Herz begann zu hämmern, während er sich wild umsah.
Niemand war da, und niemand hatte seinen Namen gerufen. Kaum eine Handbreit neben ihm war ein kopfgroßer Stein ins Wasser gestürzt, und die Berührung, die er gespürt hatte, war das eiskalte Wasser gewesen, das über sein Gesicht spritzte. Ein neuer, eisiger Schrecken durchfuhr ihn, als er begriff, was sein vermeintliches Erlebnis wirklich bedeutete: Er war eingeschlafen, und sein Unterbewusstsein hatte diesen Weg gewählt, um ihn wachzurütteln.
Mogens stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen hoch und wandte noch einmal den Kopf. Aus dem Tunnel quollen noch immer dichte Rauchschwaden, in denen es jetzt aber nicht mehr wetterleuchtete. Die Wolke breitete sich langsam über den See aus, wobei sie allmählich flacher und zugleich breiter wurde; ein stummer Bote der Vernichtung, der die unterirdische Stadt anheim gefallen war. Die ungeheure Explosion, die sie gehört hatten, konnte unmöglich nur von dem Dynamit in Toms Rucksack stammen. Die Höhle mitsamt der unterirdischen Stadt und allen ihren Wundern und Mysterien war zerstört, und zweifellos waren auch die Tempelkammer und Graves' gesamte Ausgrabungsstelle vernichtet worden, möglicherweise sogar das darüber befindliche Lager selbst.
Aber das Gefühl des Bedauerns, auf das er wartete, kam nicht. Er empfand eine flüchtige Trauer, als er Toms gedachte, der sein junges Leben einer so sinnlosen Sache wie Rache geopfert hatte, doch selbst dieses Gefühl blieb vage, so als spüre er tief in sich, dass es im Grunde nicht berechtigt war. Wenn es jemals einen Grund für einen Menschen gegeben hatte, sein Leben zu opfern, dann für Tom. Und vielleicht war Tom ja das letzte Opfer in diesem Krieg gewesen, der seit fünftausend Jahren hier unten tobte.
Ein tonnenschwerer Felsbrocken stürzte nicht weit von ihm entfernt zu Boden und brachte Mogens dazu, seine Einschätzung hastig zu korrigieren: Wenn er noch lange hier blieb, dann konnte es durchaus zumindest noch ein weiteres Opfer geben, und das wäre dann wirklich sinnlos.
Keuchend stemmte er sich in die Höhe, machte einen einzelnen Schritt und fiel wieder auf Hände und Knie, als sich der Boden unter ihm bewegte.
Mogens keuchte vor Schmerz, als seine Handgelenke einfach unter dem Gewicht seines Körpers nachgaben. Im ersten Moment war er fest davon überzeugt, sich die Hände gebrochen zu haben, doch dafür war der Schmerz beinahe zu schlimm. Stöhnend wälzte er sich auf den Rücken, und seine Augen wurden groß vor Entsetzen, als er die Decke über sich sah. Sie bewegte sich. Die gewaltige Kuppel hatte sich verschoben und bekam immer mehr Risse und Sprünge. Sonnenlicht stach in schmalen, scharf begrenzten Bahnen durch den berstenden Fels und ließ den Staub in der Luft in allen Farben des Regenbogens aufleuchten, ein Anblick von ebenso bizarrer wie tödlicher Schönheit. Die Anzahl der schimmernden Lichtspeere nahm rasend schnell zu, und der Felsendom, noch vor Minuten eine perfekte Kuppel, wie sie präziser nicht von einem Michelangelo hätte entworfen sein können, verschob sich immer mehr ins Bizarre. Ein tiefes, sonderbar stöhnendes Geräusch erklang, nicht mehr das Grollen einer Explosion oder die peitschenden Laute von zerbrechendem Fels, die ein Erdbeben begleiten, sondern tatsächlich etwas wie ein Seufzen, der letzte Atemzug eines gewaltigen, uralten Wesens, das starb. Das Erdbeben war vorbei, aber die Höhle brach zusammen. Jetzt -