»Frauen fallen in Ohnmacht, Miss Preussler«, antwortete er und zog die Beine aus dem eisigen Wasser. »Männer verlieren das Bewusstsein.«
»Aha«, sagte Miss Preussler. Sie stand auf. »Offensichtlich geht es Ihnen ja schon wieder ganz gut.«
Mogens verzog die Lippen zu einem gequälten Grinsen und versuchte ebenfalls aufzustehen, glitt aber im feuchten Sand augenblicklich aus und fiel ungeschickt nach hinten.
»Geben Sie Acht, Professor«, sagte Miss Preussler spöttisch. »Nicht dass Sie am Ende wieder das Bewusstsein verlieren.«
»Ich werde mich bemühen«, ächzte Mogens. Umständlich stemmte er sich erneut und sehr viel vorsichtiger hoch und lauschte einen Moment mit geschlossenen Augen in sich hinein. Anscheinend hatte er sich tatsächlich weder etwas gebrochen noch irgendwelche anderen schweren Verletzungen zugezogen, aber das Muskelkater-Gefühl war noch immer da und ließ jede noch so kleine Bewegung zu einer fühlbaren Anstrengung werden. Mogens biss die Zähne zusammen. Aber er ertappte sich absurderweise auch dabei, dieses Gefühl zugleich in vollen Zügen zu genießen, bewies es ihm doch, dass er noch am Leben war.
Ein Schatten huschte durch sein Gesichtsfeld, als er sich herumdrehte, und Mogens hielt für einen Moment in der Bewegung inne und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht nach Süden. Irgendwo, weit hinter der zerbröckelnden Linie der Steilküste, stiegen graue und schwarze Rauchwolken in den Himmel. Dort hinten brannte es, und der Anblick löste ein ebenso sonderbares Gefühl in ihm aus wie der dumpfe Beinahe-Schmerz, der noch immer jede seiner Bewegungen begleitete. Der schwarze Rauch bedeutete zweifellos irgendein Unglück und möglicherweise auch Leid oder Tod, die über Menschen gekommen waren, aber er war auch ein Teil des Lebens, so wie ihm der Schmerz in seinen Gliedern letzten Endes bewies, dass auch er noch am Leben war.
»Da hinten brennt es«, sagte er.
Miss Preussler nickte. Sie sagte nichts, aber irgendetwas war an ihrem Schweigen, was Mogens beunruhigte.
»Ich möchte wissen, was passiert ist«, fuhr er fort. Er dachte einen Moment angestrengt nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Er hatte sich den Weg, den Tom und er genommen hatten, nicht gemerkt. Wozu auch? »Ist das... unser Lager?«, fragte er zögernd.
Statt zu antworten, sah ihn Miss Preussler auf eine Weise an, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ, und das eindeutig länger, als ihm angemessen schien, dann hob sie die Hand und deutete auf einen schmalen Pfad, der in einiger Entfernung an der Steilküste hinaufführte. »Ich war oben.« Ihre Stimme klang... sonderbar, dachte Mogens.
»Also ist es unser Lager«, murmelte er. Natürlich. Das Beben war zweifellos stark genug gewesen, um auch an der Oberfläche spürbar zu sein und nicht nur das Lager zu zerstören, sondern möglicherweise auch...
Mogens erschrak. »O Gott«, flüsterte er. »Nicht die Stadt!« Fast entsetzt starrte er Miss Preussler an. »Dort müssen... mein Gott, dort leben Hunderte von Menschen. Sagen Sie mir, dass es nicht die Stadt ist!«
»Nein«, antwortete Miss Preussler; aber sie tat es auf eine Art, die rein gar nichts Beruhigendes hatte, sondern seine Angst eher noch schürte. »Nicht die Stadt. Es ist San Francisco. Es brennt.«
Mogens starrte sie an.
»Man kann nicht viel sehen«, antwortete Miss Preussler leise. »Wir sind mindestens dreißig Meilen entfernt. Aber es sieht aus, als stünde der ganze Horizont in Flammen. Das Feuer muss gewaltig sein, wenn man den Rauch bis hierher sieht.«
»San Francisco?«, wiederholte Mogens ungläubig. »Aber das... das ist doch nicht möglich. Wir sind doch viel zu weit...« San Francisco? Das konnte nicht sein. Die Explosion war gewaltig gewesen, aber nicht so gewaltig. Dreißig Meilen! Unmöglich! Das konnte nicht sein!
Mogens schüttelte den Gedanken mit Gewalt ab und führte seine begonnene Bewegung mit einiger Verspätung zu Ende. Weniger als ein Dutzend Schritte hinter ihnen war die gesamte Steilküste zusammengebrochen. Der schmale Streifen aus weißem Sand, der die fünfzehn Meter hohe Felswand vom Wasser trennte, war unter einem Wirrwarr aus zerborstenem Stein und zyklopischen Felstrümmern verschwunden, das sich wie eine roh aufgeschüttete Mole dreißig, vierzig Meter weit ins Meer erstreckte, bevor es allmählich flacher wurde und schließlich ganz verschwand. Noch immer hing Staub wie feiner Nebel in der Luft, und obwohl der Wind seewärts wehte, glaubte Mogens einen schwachen Geruch wie nach zermahlenem Stein und faulem Seetang zu verspüren. Weit draußen im Meer, gerade an der Grenze des überhaupt noch Sichtbaren, schien etwas im Wasser zu treiben, das wehende Haar einer Meerjungfrau, die sich langsam wieder in die lichtlosen Tiefen zurückzog, aus der sie gekommen war. Aber das lautlose Wogen und Gleiten dicht unter der Wasseroberfläche nahm bereits ab, so wie auch der Staub allmählich auseinander trieb. Nur noch kurze Zeit, und das gewaltige Trümmerfeld würde sich in nichts mehr von zahllosen anderen Stellen unterscheiden, die es an diesem Teil der Küste gab.
»Ist es vorbei?«, fragte Miss Preussler leise. Er hatte sogar gehört, dass sie neben ihn getreten war; trotzdem fuhr er so erschrocken zusammen, dass sie ihn fast schuldbewusst ansah und wieder einen Schritt weit vor ihm zurückwich.
»Ich wollte, ich wüsste es«, murmelte er, zwang sich aber schon im nächsten Augenblick zu einem aufmunternden Lächeln. »Doch«, behauptete er. »Ich denke, es ist vorbei!«
»Und woher nehmen Sie diese Überzeugung, Professor?«, fragte sie. Mogens fiel erst jetzt auf, wie schlecht sie aussah. Das Sonnenlicht, das er das letzte Mal vor tausend Jahren auf ihrem Gesicht gesehen hatte, verlieh ihren Zügen eine Lebendigkeit, die ihn im allerersten Moment darüber hinweggetäuscht hatte, wie müde und unglaublich erschöpft sie aussah. Sie war, ebenso wie er, bis auf die Haut durchnässt. Haare und Kleider klebten nass und schwer an ihr, und unter der Sonnenbräune war ihre Haut so fahl wie die einer Toten. Ihr bisher so glattes Gesicht hatte nun dunkle, tief eingegrabene Linien bekommen, und als Mogens in ihre Augen blickte, wusste er, was man darunter verstand, wenn man sagte, dass ein Mensch seine Unschuld verloren hatte. Miss Preussler hatte ihre Unschuld verloren. Sie alle hatten das, in dieser Nacht. Und einige von ihnen auch noch mehr.
»Nun, ganz einfach, Miss Preussler«, antwortete er in gezwungen lockerem Ton. »Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch so etwas zweimal im Leben überstehen kann. Und da ich nicht vorhabe, so bald zu sterben, muss es wohl vorbei sein.«
Miss Preussler blieb ernst. »Ich bin so erleichtert, dass Sie noch am Leben sind, Professor«, sagte sie. »Als ich gesehen habe, wie der Berg zusammenbrach, da war ich sicher, es wäre um Sie geschehen. Wie, um Himmels willen, sind Sie dort herausgekommen? Die Engel müssen ihre schützende Hand über Sie gehalten haben.«
»Vermutlich«, antwortete Mogens lächelnd. »Auch wenn ich glaube, dass es nur einer war.« Ihr Blick wurde fragend - fast ein bisschen misstrauisch -, aber Mogens kam ihr zuvor, indem er selbst eine Frage stellte: »Wie sind Sie herausgekommen? Als die Barke umgeschlagen ist...«
»... dachte ich, es wäre um mich geschehen«, fiel ihm Miss Preussler ins Wort. »Ich hatte wohl einfach Glück. Ich...« Sie suchte einen Moment sichtbar nach Worten, und als sie endlich weitersprach, sah sie Mogens nicht mehr direkt in die Augen, so als wären ihr ihre eigenen Worte überaus peinlich. »Nun, um offen zu sein, ich... kann nicht schwimmen.«
»Sie können nicht schwimmen?«, vergewisserte sich Mogens.
Sein überraschter Ton galt eher dem Umstand, dass sie lebend vor ihm stand und überhaupt zu diesem Eingeständnis in der Lage war, aber Miss Preussler schien ihn wohl gründlich misszuverstehen, denn sie sah sich ganz offensichtlich zu einer Verteidigung genötigt. »Ich habe diese Fertigkeit eben nie erlernt«, sagte sie patzig. »Und? Die Gelegenheit hat sich nie ergeben. Und ich war bisher auch der Meinung, sie nicht zu benötigen.«