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»Ich weiß, es ist ein denkbar schlechter Augenblick, um damit anzufangen, Professor«, begann Miss Preussler. Mogens gab ihr in Gedanken nur zu Recht. Der Augenblick war denkbar schlecht, ganz egal, was sie ihm nun sagen wollte. »Aber ich kam leider nicht umhin, den Inhalt dieses Telegramms zur Kenntnis zu nehmen. Ich bin... ein bisschen erschrocken, wenn ich ehrlich sein soll.«

»So?«, fragte Mogens spröde.

»Professor, lassen Sie mich ganz offen sein«, fuhr Miss Preussler fort. Sie kam noch näher. Ihr wogender Busen berührte jetzt fast Mogens' Brust, und er konnte riechen, dass sie frisches Parfüm aufgelegt hatte. Ein ziemlich aufdringlicher, aber auch ein wenig muffiger Geruch, wie er fand. »Sie wohnen jetzt seit mehr als vier Jahren hier. Aber Sie sind für mich vom ersten Tag an weit mehr als ein normaler Gast gewesen. Es fällt mir ein wenig schwer, es zuzugeben, aber wahr ist, dass ich eine gewisse... Sympathie...«

»Natürlich ist es mir aufgefallen, Miss Preussler«, fiel ihr Mogens ins Wort, wobei er sich im Stillen allerdings fragte, ob er nicht gerade einen schweren Fehler beging. »Es ist nur so, dass...«

»Sie tragen sich doch nicht etwa mit dem Gedanken, Thompson zu verlassen«, unterbrach ihn Miss Preussler. Die Worte wurden von einem schweren, tiefen Atemzug begleitet, der bewies, wie schwer es ihr fiel, sie auszusprechen. »Ich meine: Natürlich ist mir klar, dass ein Mann Ihres Niveaus und Ihrer Bildung an einer Universität wie der unseren vollkommen unterfordert ist. Es ist ja nur eine kleine Fakultät, an der sicher nicht die weltbewegendsten Forschungen getätigt werden. Trotzdem hat sie aber ihre unbestreitbaren Vorzüge. Das Leben verläuft in geregelten Bahnen und eine Frau kann auch nach Dunkelwerden noch allein auf die Straße gehen, ohne Angst haben zu müssen.«

Mogens fragte sich, wie viele Argumente Miss Preussler wohl noch zugunsten einer Stadt finden mochte, zu deren Gunsten es keine Argumente gab. Etwas sehr Sonderbares geschah, mit dem Miss Preussler nicht nur ganz bestimmt nicht gerechnet, sondern das sie wohl auch zutiefst erschreckt hätte, hätte sie davon gewusst: Während sie fortfuhr, die fadenscheinigsten Argumente zugunsten Thompsons vorzubringen, bewirkten ihre Worte das genaue Gegenteil. Mit einem Male wurde Mogens so klar wie selten zuvor in den vergangenen vier Jahren, in welch auswegslose Lage ihn das Schicksal wirklich gebracht hatte. Bisher hatte er sich stets mit mehr oder weniger großem Erfolg eingeredet, hier im Grunde alles zu haben, was er zum Leben brauchte, doch nun wurde ihm plötzlich bewusst, dass er damit nur das Überleben gemeint hatte, nicht das Leben. Und noch etwas wurde ihm schlagartig klar: Eigentlich war er bereits fest entschlossen, das interessante berufliche Angebot, von dem in dem Telegramm die Rede war, anzunehmen.

Seine Gedanken wanderten zurück zu jener Zeit, die ihm so unendlich weit entfernt schien, ohne es tatsächlich zu sein, und in der seine Zukunft so klar überschaubar und strahlend erschienen war, wie es überhaupt nur ging. Er hatte in Harvard als einer der drei Besten seines Jahrgangs promoviert, was niemanden überrascht hatte, und noch bis zum Abend seiner Abschlussfeier schien klar zu sein, dass ihm eine große Zukunft bevorstand. Ein einziger Abend, ja, ein einziger Augenblick, hatte alles verändert. Mogens war versucht, dem Schicksal allein die Schuld daran zu geben. Er hatte einen Fehler gemacht, einen schlimmen, unverzeihlichen Fehler, aber es war einfach nicht gerecht, dass er so dafür büßen musste.

»... ist mir natürlich alles klar«, sagte Miss Preussler in diesem Moment. Mogens schrak sichtbar zusammen und begriff im Nachhinein, dass sie die ganze Zeit über nicht aufgehört hatte zu reden, ohne dass er sich auch nur an ein einziges Wort erinnerte. »Aber vielleicht... ich meine, möglicherweise... könnten Sie es ja in Betracht ziehen, unsere Beziehung auf eine etwas... persönlichere Weise zu gestalten. Ich weiß, ich bin älter als Sie, und ich kann auch nicht mehr mit den körperlichen Attributen der jungen Damen mithalten, die Sie dann und wann in der Kreisstadt besuchen, aber es wäre vielleicht einen Versuch wert.«

Sie verstummte, erschöpft und zugleich ein wenig ängstlich, was seine Reaktion anging. Sie hatte sich ihm schließlich offenbart, auf eine sehr deutliche, für eine Frau wie sie schon geradezu unerhörte Art, und natürlich konnte er jetzt nicht mehr so tun, als ahne er nichts von ihren wahren Gefühlen. Mogens war vollkommen verunsichert. Dass Miss Preussler von seinen sporadischen Besuchen in der Kreisstadt wusste und auch, was er dort tat, überraschte ihn und war ihm zugleich peinlich. Aber viel mehr schockierte ihn alles andere, was sie gesagt hatte. Ihre Worte hatten den mühsam aufrechterhaltenen Status quo, in dem sie seit Jahren lebten, beendet, schlagartig und unwiderruflich. In Zukunft würde alles viel komplizierter werden, ja, vielleicht sogar unmöglich. Die Dinge wiederholten sich, dachte er traurig. Ein paar Worte, eine einzige, unbedachte Äußerung, und aus einer überschaubaren, klar geplanten Zukunft war ein schwarzer Abgrund voller Ungewissheit geworden. Der Verlust war diesmal nicht annähernd so groß, und doch war die Situation vergleichbar. Worte konnten so unendlich viel mehr Schaden anrichten als Taten.

»Sie sind jetzt schockiert, nicht wahr?«, fragte Miss Preussler, als er auch nach weiteren Sekunden nicht antwortete. Sie wirkte niedergeschlagen, aber auch verlegen. »Ich hätte das nicht sagen sollen. Verzeihen Sie mir. Ich bin eine dumme alte Frau, die...«

»Miss Preussler«, unterbrach sie Mogens, »darum geht es nicht.« Er bemühte sich, so viel Ruhe und Sanftheit in seine Stimme zu legen, wie er nur konnte, und dann tat er etwas, von dem er wusste, dass er es besser nicht tun sollte und was er in den letzten vier Jahren fast angstvoll vermieden hatte: Er streckte die Hand aus und berührte Miss Preussler sanft am Arm. Sie fuhr unter seiner Berührung schaudernd zusammen und Mogens stellte mit einem Gefühl beiläufiger Überraschung fest, dass sich ihre Haut tatsächlich sehr weich und angenehm anfühlte.

»Ich bin froh, dass Sie es gesagt haben«, sagte er. »Natürlich sind mir Ihre Gefühle mir gegenüber nicht verborgen geblieben. Ich versichere Ihnen, dass auch Sie mir nicht gleichgültig sind. Es ist nur so, dass... dass es da etwas gibt, was Sie nicht über mich wissen.«

»Aber das ist mir doch klar, mein lieber Professor.«

»Wie?« Mogens blinzelte. Fast ohne sein Zutun zog er die Hand von ihrem Arm zurück.

»Glauben Sie denn wirklich, ich wüsste nicht, dass sich ein Mann Ihrer Bildung nicht ohne einen triftigen Grund in einer Stadt wie Thompson versteckt?«, fragte Miss Preussler. »Sie werden Ihre Gründe haben, nicht an einer der großen Universitäten zu lehren, wo Sie meiner Meinung nach hingehören. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wenn Sie nicht darüber sprechen wollen, so akzeptiere ich das. Ich werde niemals auch nur eine einzige Frage stellen.«

Vor dem Haus fuhr ein Wagen vor. Das Geräusch war nicht besonders laut, denn Mogens hatte die Fenster geschlossen, um die Wärme des Kaminfeuers drinnen zu halten, aber er hob den Kopf und sah in die entsprechende Richtung, und das beunruhigende Flackern in Miss Preusslers Augen erlosch. Sie hatte wohl begriffen, dass der kostbare Moment vorbei war, vielleicht auch, dass er niemals wiederkehren würde. Mogens war erleichtert, hatte aber zugleich auch ein starkes Gefühl von Mitleid. Seufzend drehte sich Miss Preussler um, ging zum Fenster und sah hinaus.