Dieser Aufzug allein hätte ihn jedoch nicht überrascht. Jonathan war schon immer ein eitler Geck gewesen, und ein furchtbarer Angeber dazu. Was Mogens jedoch zutiefst verwirrte und zugleich auf eine schwer definierbare Weise erschreckte, das war Graves selbst. Er konnte die Gefühle, die sein Anblick in ihm auslöste, nicht wirklich in Worte fassen, aber sie waren unglaublich... intensiv. Das Gefühl, etwas Falsches zu betrachten. Etwas, das nicht nur falsch war, sondern nicht sein durfte, weil es widernatürlich und blasphemisch war.
Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen und wieder Ordnung in das Durcheinander hinter seiner Stirn zu bringen. In die einander widersprechenden Empfindungen, die Graves' Anblick in ihm ausgelöst hatten, mischte sich ein allmählich stärker werdender Zorn auf ihn selbst. Seine Reaktion war mittlerweile nicht nur nicht mehr angemessen, sondern eines Wissenschaftlers auch einfach unwürdig. Schließlich hatte er gelernt, die Dinge so zu betrachten, wie sie waren, und Fakten zu würdigen, nicht Emotionen. Und was Graves' Anblick in ihm auslöste, das konnten nur Emotionen sein. Er hatte das Gefühl, ein durch und durch verkommenes Subjekt zu betrachten, ein heruntergekommenes, viehisches... Etwas, das den Namen Mensch nicht einmal mehr im Ansatz verdiente und nur Ekel und Widerwillen in ihm auslöste.
Was seine bewusste Anstrengung nicht vollbracht hatte, das bewirkten diese irrationalen Gefühle: Mogens' Zorn verrauchte auf der Stelle, und er spürte, wie auch seine Muskelspannung wich und sich selbst sein rasender Herzschlag wieder beruhigte. Vielleicht weil er begriff, was in ihm vorging. Jonathan Graves war niemals ein angenehmer Mensch gewesen, aber diese extreme Reaktion tat selbst ihm Unrecht. Ganz offensichtlich war er nicht mehr in der Lage, Graves mit objektiven Augen zu betrachten. Er hatte in den vergangenen neun Jahren mehr oder weniger erfolgreich versucht, sowohl den Namen Jonathan Graves als auch das bloße Wissen um die Existenz des Trägers eben dieses Namens aus seinem Bewusstsein zu verbannen, aber nun wurde ihm klar, von wie wenig Erfolg dieser Versuch in Wahrheit gekrönt gewesen war. Er hatte Graves niemals vergessen, nicht eine Sekunde lang. Ganz im Gegenteil. Etwas in ihm hatte Graves für jeden Moment der Enttäuschung, jeden Augenblick der Frustration und jeden Tag der Verbitterung in neun endlosen Jahren verantwortlich gemacht, sodass er gar nicht mehr in der Lage war, ihn als menschliches Wesen zu betrachten.
Er atmete hörbar ein, löste mit einer ganz bewusst langsamen Bewegung die Hände von der Stuhllehne und sah Graves fest in die Augen; etwas, was er vor zwei oder drei Sekunden noch nicht gekonnt hätte. »Ich frage dich noch einmal, Jonathan - was willst du hier?«
»Es wird allmählich langweilig, Mogens«, seufzte Graves. »Du hast mein Telegramm doch gelesen, oder? Ich dachte, es wäre eindeutig genug. Ich bin hier, um dir eine Anstellung anzubieten.«
»Du?« Obwohl Mogens im Glauben war, sich vollkommen in der Gewalt zu haben, schrie er das Wort fast. Das Telegramm war zwar im Detail bewusst vage, in seiner Aussage aber unzweifelhaft gewesen. Dass ihm Graves - ausgerechnet Graves - eine Arbeit anbot, das war... grotesk!
»Warum nicht?« Graves musste den hysterischen Ton in seiner Stimme gehört haben, aber er ignorierte ihn einfach. Was das anging, so hatte sich Graves in den vergangenen Jahren nicht im Mindesten verändert. Er war und blieb der unverschämteste Mensch, den Mogens je kennen gelernt hatte. »Wenn es jemanden gibt, mein lieber Mogens, der deine Fähigkeiten wirklich kennt, dann bin ich es. Oder willst du mir ernsthaft vormachen, dass du in diesem gottverlassenen Nest eine Anstellung gefunden hast, die deinen Fähigkeiten entspricht?«
»Ich habe eine Anstellung«, antwortete Mogens kühl. »Danke.«
Graves machte einen undefinierbaren Laut, der sich aber irgendwie... unangenehm in Mogens' Ohren anhörte. »Hör doch auf! Wir kennen uns wirklich lange genug. Wir müssen uns nun wahrhaftig nichts mehr gegenseitig vormachen! Ich hatte Mühe, dieses Kaff auf der Landkarte zu finden, und noch mehr Mühe zu glauben, dass es hier eine Universität gibt!«
»Ich kann dir versichern, es gibt sie«, sagte Mogens.
Graves machte ein abfälliges Geräusch. »Ja, ich weiß. Eine baufällige Bruchbude, die beim nächsten Windzug vermutlich umfällt. Das aktuellste Buch in der Bibliothek ist fünfzig Jahre alt und einige deiner so genannten Studenten sind älter als du!« Er nickte grimmig. »Du fristest deine Tage damit, verstaubte Papiere in einem fensterlosen Keller zu sichten, die niemanden auf dieser ganzen weiten Welt interessieren. Dein Gehalt reicht mit Mühe und Not für diese jämmerliche Unterkunft, und du bekommst es nicht einmal regelmäßig. Du bist hier lebendig begraben, Mogens. Und manchmal fragst du dich, ob du vielleicht schon tot bist, ohne es selbst gemerkt zu haben.« Er gab wieder diesen unangenehmen - unanständigen - Laut von sich, griff in seine Jacke und zog ein silbernes Zigarettenetui hervor. Mogens fiel erst jetzt auf, dass er noch immer schwarze, eng anliegende Lederhandschuhe trug. »Bin ich der Wahrheit damit nahe gekommen, oder habe ich noch etwas vergessen... o ja: Man hat dich nur eingestellt, weil man sich mit einem Akademiker deines Kalibers schmücken wollte. Und weil du billig warst.«
»Du hast dich gut informiert, Jonathan«, sagte Mogens düster. Seine Worte abzuleugnen wäre sinnlos gewesen. Lächerlich. Nicht nur Graves, sondern auch sich selbst gegenüber. Graves hatte mit wenigen Worten seine Situation so präzise beschrieben, wie es nur möglich war; und zugleich brutaler, als Mogens es jemals über sich gebracht hätte.
Die behandschuhten Finger klappten das Etui auf, nahmen eine Zigarette und eine kostbare Zigarettenspitze aus poliertem Schildpatt heraus, und klappten es wieder zu. Mogens hatte für einen ganz kurzen Moment Mühe, seinen Worten noch zu folgen. Was er beobachtete, verwirrte und faszinierte ihn zugleich. Graves' Finger bewegten sich auf eine Art und Weise, wie er es noch nie zuvor gesehen, ja, nicht einmal für möglich gehalten hatte, die er nicht einmal wirklich beschreiben konnte. Schnell, fließend, scheinbar unabhängig voneinander und auf eine Art, als folgten sie dabei einem nicht erkennbaren, aber vorhandenen Muster. Graves' Hände schienen ihm viel mehr eigenständig denkende Wesen zu sein als Anhängsel seines Körpers, die nicht wirklich den Befehlen seines Geistes gehorchten, sondern eilfertig darum bemüht schienen, seinen Wünschen vorauszueilen.
»Selbstverständlich habe ich mich informiert«, antwortete Graves spöttisch. Seine Finger verstauten das Zigarettenetui wieder in der Jacke und zauberten in der gleichen spinnenhaften Bewegung ein goldenes Feuerzeug hervor. »Ich fahre nicht zweieinhalbtausend Meilen weit, ohne mich vorzubereiten.« Er ließ sein Feuerzeug aufschnappen und drehte das Zündrädchen. Ein schwacher Geruch nach Benzin schlug Mogens entgegen, und er sagte schnelclass="underline" »Bitte nicht. Ich verabscheue den Geruch von kaltem Rauch.«
Graves hielt ungerührt das Ende seiner Zigarette in die Flamme und nahm einen tiefen Zug. »Du wirst ihn nicht lange ertragen müssen«, sagte er, während sein Gesicht langsam hinter einem Vorhang aus grauem Qualm verschwand, der ihm aus Mund und Nase quoll. »Wenn wir uns einig werden - woran ich im Grunde nicht zweifle, Mogens, denn ich halte dich nach wie vor für einen sehr klugen Mann -, dann kannst du dieses elende Kaff und diese jämmerliche Bruchbude hier schon heute verlassen.«
Mogens starrte missbilligend auf die brennende Zigarette im Mundwinkel seines Gegenübers; im Grunde nur, um den Anblick seiner Hände nicht weiter ertragen zu müssen, war sich aber nach einem Augenblick nicht mehr sicher, wirklich einen guten Tausch gemacht zu haben. Aus Graves' Mund und Nase quoll noch immer Rauch von dunkelgrauer, zäher Konsistenz, der sich in trägen Schwaden rings um ihn herum in der Luft ausbreitete und nur langsam zu Boden sank, ehe er - ungefähr in der Höhe seiner Knie - vom Luftzug des Kamins ergriffen und in die Flammen gesaugt wurde. Er bewegte sich nicht, und er sah auch nicht wirklich aus wie Zigarettenrauch, fand Mogens. Es sah eher aus, als... als sondere Graves grauen Schleim ab, der aus seinem Mund und seinen Nasenlöchern tropfte und sich wie eine Flüssigkeit verhielt, die leichter als Luft war.