Er griff in die Jackentasche, zog einen Briefumschlag hervor und legte ihn vor Mogens auf den Tisch. Seine Handschuhe schienen dabei zu pulsieren, als hätten sich seine Finger irgendwie verflüssigt und versuchten nun, ihr Gefängnis aus schwarzem Leder zu sprengen.
»In diesem Kuvert befindet sich eine Bahnfahrkarte erster Klasse nach San Francisco. Darüber hinaus der Betrag von fünfhundert Dollar in bar, um deine Reisespesen und eventuelle andere Unkosten zu decken. Solltest du dich entscheiden, mein Angebot abzulehnen, kannst du diesen Betrag auf jeden Fall behalten. Falls du es jedoch annimmst - was ich aufrichtig hoffe -, findest du in dem Umschlag noch eine Telefonnummer, unter der du mich erreichst. Wenn du vom Bahnhof aus anrufst, lasse ich dich binnen einer Stunde abholen.«
Und damit nahm er den heruntergebrannten Rest seiner Zigarette aus der Spitze, schnippte ihn zielsicher in das flackernde Feuer im Kamin und ging ohne ein weiteres Wort zur Tür. Bevor er sie öffnete und das Zimmer verließ, blieb er jedoch noch einmal stehen und sagte: »Ach, und noch etwas. Falls es dir bei deiner Entscheidung hilft: Du wirst nicht unmittelbar mit mir zusammenarbeiten müssen. Ich denke nicht, dass wir uns öfter als ein- oder zweimal die Woche sehen werden.«
Damit ging er.
Mogens starrte wie gelähmt auf den Briefumschlag. Er hatte nicht wirklich an der Ernsthaftigkeit von Graves' Offerte gezweifelt, auch wenn er sich über dessen Beweggründe weniger im Klaren war denn je. Jonathan Graves war der vielleicht rücksichtsloseste Mensch, dem er jemals begegnet war, aber er war nicht dumm. Ein solch infantiler Scherz hätte einfach nicht zu ihm gepasst. Und fünfhundert Dollar waren einfach zu viel, um sie in einen bloßen Witz zu investieren. Es war mehr, als er in drei Monaten an dieser so genannten Universität verdiente; und nahezu ebenso viel, wie er in den vier Jahren seines freiwilligen Exils hatte zurücklegen können.
Das Geld selbst zählte jedoch nicht. Er verschwendete überhaupt nur insofern einen Gedanken daran, als es die Seriosität von Graves' Angebot zu beweisen schien. Unendlich viel wichtiger war das, was dieser Umschlag bedeutete. Nichts anderes nämlich als einen Ausweg aus der Sackgasse, in die das Schicksal und er selbst sich in den letzten Jahren hineinmanövriert hatte.
Die Tür wurde geöffnet, und Mogens fuhr fast erschrocken herum, halb darauf gefasst, Graves zurückkommen zu sehen, wie er sich vor Lachen ausschüttete, und um sich an seinem fassungslosen Gesicht zu weiden, wenn er ihm eröffnete, dass sein großzügiges Angebot ebenso wie sein bizarres Betragen nur Teil eines verspäteten Studentenulks waren.
Statt Jonathan Graves trat jedoch Miss Preussler ein, bewaffnet mit einem Zinkeimer voller dampfender Seifenlauge, Kittelschürze und einem ganzen Bündel Wischlappen. Ohne ein Wort zu verlieren, ging sie an Mogens vorbei, ließ sich auf die Knie sinken und begann an einem der Schmierflecken zu schrubben, die Graves auf dem Teppich hinterlassen hatte. Obwohl sie Mogens dabei den Rücken zudrehte, konnte er sehen, dass sie vor Scham und Verlegenheit hochrot angelaufen war.
Plötzlich sagte sie: »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie peinlich mir das ist, Professor.«
»Das muss es nicht«, antwortete Mogens, aber Miss Preussler schien seine Worte gar nicht zu hören.
»So etwas Unerhörtes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Ich verstehe einfach nicht, was mit Cleopatra los ist. So etwas hat sie noch nie zuvor getan, bitte glauben Sie mir.« Während sie an dem Fleck herumschubberte, begann der Gestank schlagartig zuzunehmen. Seltsamerweise war es jedoch nicht nur Katzendreck, den Mogens roch, da war noch etwas, etwas... Unheimliches, Fremdes und zugleich Abstoßendes, als hätte Graves' Gegenwart etwas in diesem Zimmer hinterlassen, das die Luft hier drinnen verpestete. Miss Preussler verzog angeekelt das Gesicht, tauchte ihren Putzlappen ins Wasser und wrang ihn übertrieben sorgfältig aus, ehe sie weiterschrubbte.
»Ich verstehe überhaupt nicht, was in die Katze gefahren ist«, fuhr sie fort, während sie immer hektischer und fester auf dem Flecken rieb, als könne sie nur durch genügend Kraft gleichermaßen auch die Schmach wegreiben, die Cleopatras unerhörtes Betragen über ihr Haus gebracht hatte. »Ich werde gleich morgen mit ihr zum Tierarzt gehen und sie gründlich untersuchen lassen.«
»Miss Preussler«, unterbrach sie Mogens.
Seine Zimmerwirtin hörte auf, wie besessen an dem Fleck herumzuschrubben, starrte aber noch mindestens fünf oder sechs Sekunden lang ins Leere, ehe sie langsam den Kopf hob und ihn fast angsterfüllt ansah.
»Machen Sie Cleopatra keinen Vorwurf«, sagte Mogens. »Wenn ich eine Katze wäre, hätte ich vermutlich dasselbe getan.«
Mogens stand auf, wich Miss Preusslers nunmehr vollkommen fassungslosem Blick aus und ging mit schnellen Schritten zum Fenster, um es aufzumachen und den erbärmlichen Gestank entweichen zu lassen. Dann stockte seine Hand auf halbem Wege zum Griff. Jonathan hatte mittlerweile das Haus verlassen und war unten auf der Straße dabei, in sein Cabriolet zu steigen. Im wortwörtlichen Sinne. Er machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen, sondern kletterte mit einer schlängelnden, sonderbar reptilienhaft wirkenden Bewegung über den Wagenschlag und glitt hinter das Lenkrad. Ohne auch nur einmal aufzusehen, startete er den Motor und fuhr los.
»Würden Sie bitte das Fenster öffnen, Professor?«, bat Miss Preussler. »Der Gestank ist unerträglich. Großer Gott, ich werde Monate brauchen, um ihn wieder aus dem Teppich herauszubekommen. Ich verstehe das gar nicht. Cleopatra muss irgendetwas Schlechtes gegessen haben.«
Mogens' Hand schloss sich um den Fenstergriff, aber er zögerte noch immer, das Fenster aufzumachen. Graves' Buick hatte mittlerweile das Ende der Straße erreicht und bog ab, und trotzdem hatte er das Gefühl, dass etwas von ihm zurückgeblieben war; etwas, das dort unten auf der Straße lauerte und sofort hereindringen würde, sobald er den Fehler beging, die Tore seiner Festung zu öffnen.
Was natürlich eine durch und durch albere Vorstellung war.
Mogens verscheuchte den kindischen Gedanken, schalt sich im Stillen einen Narren und zog den Fensterflügel mit einem schon übertrieben heftigen Ruck auf. Kalte Luft und sonst rein gar nichts strömte herein, allenfalls noch ein wenig Feuchtigkeit. Die Flammen im Kamin prasselten höher, als frischer Sauerstoff von außen hereinströmte, es wurde fast augenblicklich kälter im Zimmer, aber der eisige Schwall vertrieb auch den Gestank; nicht ganz, aber er machte ihn spürbar erträglicher.
Miss Preussler atmete ebenfalls hörbar auf und kroch auf Händen und Knien zu einem weiteren Fleck, um ihm mit Scheuerlappen und Seife zu Leibe zu rücken. »Ich kann Ihnen wirklich nicht oft genug sagen, wie peinlich mir der Zwischenfall ist«, sagte sie. »Ich kann nur hoffen, dass er sich nicht allzu negativ auf Ihre Verhandlungen mit Mister Graves ausgewirkt hat... obwohl ich mir offen gestanden gar nicht vorstellen kann, dass ein Mann wie Sie es auch nur ein Moment lang ernsthaft in Betracht zieht, mit jemandem wie diesem Graves zusammenzuarbeiten - noch dazu in San Francisco! Glauben Sie mir, Professor VanAndt: Ich weiß, worüber ich spreche. Die Cousine meines verstorbenen Mannes stammte aus Kalifornien. Die Leute dort sind... seltsam. Sie würden dort nicht glücklich.«
So viel zu der Frage, ob sie an der Tür gelauscht hatte. Mogens machte jedoch keine entsprechende Bemerkung. Er nahm Miss Preussler dieses Geständnis nicht einmal übel. Vielleicht hätte er an ihrer Stelle nicht anders gehandelt. »Wieso?«, fragte er.
»Aber, Professor, ich bitte Sie!« Miss Preussler stemmte die Handflächen auf die gut gepolsterten Oberschenkel, richtete den Oberkörper gerade auf und sah ihn beinahe vorwurfsvoll an. »Dieser... Unhold ist doch nun wirklich kein Mann Ihres Niveaus, Professor! Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie einmal mit ihm befreundet gewesen sein sollen!«