»Ist das genug?« fragte er.
»Ja. Sehr gut.«
Ravic musterte die Tapete. Sie war schauderhaft. »Es scheint immerhin hell zu sein«, sagte er. »Hell und sauber.«
»Ja.«
Die Koffer wurden heraufgebracht. »So, jetzt haben Sie alles hier.«
»Ja. Danke. Danke vielmals.«
Die Frau saß auf dem Bett. Ihr Gesicht war sehr blaß und verwaschen. »Sie sollten schlafen gehen. Glauben Sie, daß Sie es können?«
»Ich werde es versuchen.«
Ravic zog eine Aluminiumröhre aus der Tasche und schüttelte ein paar Tabletten heraus. »Hier ist etwas zum Schlafen. Mit einem Glas Wasser. Wollen Sie es jetzt nehmen?«
»Nein, später.«
»Gut. Ich werde jetzt gehen. In den nächsten Tagen werde ich nach Ihnen fragen. Versuchen Sie, sobald wie möglich zu schlafen. Hier ist die Adresse des Beerdigungsinstituts, wenn Sie noch etwas zu tun haben. Gehen Sie nicht hin. Denken Sie an sich. Ich werde nach Ihnen fragen.« Ravic zögerte einen Moment. »Wie heißen Sie?« fragte er.
»Madou. Joan Madou.«
»Joan Madou. Gut. Ich werde das behalten.« Er wußte, daß er es nicht behalten würde und daß er nicht nachfragen würde. Aber da er es wußte, wollte er den Schein aufrechterhalten. »Ich werde es doch lieber aufschreiben«, sagte er und zog einen Rezeptblock aus der Tasche. »Hier — wollen Sie es selbst schreiben? Es ist einfacher.«
Sie nahm den Block und schrieb ihren Namen. Er blickte darauf, riß das Blatt ab und steckte es in die Seitentasche seines Mantels. »Gehen Sie gleich schlafen«, sagte er. »Morgen sieht alles anders aus. Es klingt albern und abgegriffen, aber es ist wahr; alles, was Sie jetzt brauchen, ist Schlaf und etwas Zeit. Eine gewisse Zeit, die Sie überstehen müssen. Wissen Sie das?«
»Ja, ich weiß es.«
»Nehmen Sie die Tabletten und schlafen Sie.«
»Ja. Danke. Danke für alles — ich weiß nicht, was ich getan hätte ohne Sie. Ich weiß es wirklich nicht.«
Sie gab ihm die Hand. Sie war kühl, aber sie hatte einen festen Druck. Gut, dachte er. Etwas von einem Entschluß ist schon da.
Ravic trat auf die Straße hinaus. Er atmete den Wind, der feucht und weich war. Automobile, Menschen, ein paar fremde Huren bereits an den Ecken, Brasserien, Bistros, der Geruch nach Tabak, Aperitifs und Benzin — schwankendes, rasches Leben. Er blickte die Hausfront hinauf. Ein paar erleuchtete Fenster. Hinter einem davon saß jetzt die Frau und starrte vor sich hin. Er zog den Zettel mit dem Namen aus der Tasche, zerriß ihn und warf ihn fort. Vergessen. Welch ein Wort. Voll von Grauen, Trost und Gespensterei! Wer konnte leben, ohne zu vergessen? Aber wer konnte genug vergessen? Die Schlacken der Erinnerung, die das Herz zerrissen. Erst wenn man nichts mehr hatte, für das man lebte, war man frei.
Er ging zum Etoile. Eine große Menschenmenge füllte den Platz. Hinter dem Arc de Triomphe waren Scheinwerfer. Sie beleuchteten das Grab des Unbekannten Soldaten. Eine riesige blauweißrote Fahne wehte darüber im Winde. Es war der zwanzigste Jahrestag des Waffenstillstandes von 1918.
Der Himmel war bedeckt, und die Strahlen der Scheinwerfer warfen den Schatten der Fahne matt, verwischt und zerrissen gegen die ziehenden Wolken. Es sah aus, als versinke dort ein zerfetztes Banner in der langsam tiefer werdenden Dunkelheit. Eine Militärkapelle spielte irgendwo. Es klang dünn und blechern. Niemand sang. Die Menge stand schweigend. »Waffenstillstand«, sagte eine Frau neben Ravic. »Mein Mann ist im letzten Krieg gefallen. Jetzt ist mein Sohn dran. Waffenstillstand. Wer weiß, was noch kommen wird...«
4
Die Fiebertabelle über dem Bett war neu und leer. Nur der Name stand darauf. Lucienne Martinet. Butte Chaumont, Rue Clavel.
Das Mädchen lag grau in den Kissen. Es war am Abend vorher operiert worden. Ravic prüfte vorsichtig das Herz. Dann richtete er sich auf. »Besser«, sagte er. »Die Blutübertragung hat ein kleines Wunder gewirkt. Wenn sie bis morgen durchhält, hat sie eine Chance.«
»Gut«, sagte Veber. »Gratuliere. Es sah nicht so aus. Hundertvierzig Puls und achtzig Blutdruck! Coffein, Coramin — das war verdammt nahe daran.«
Ravic zuckte die Achseln. »Da ist nichts zu gratulieren. Sie ist früher gekommen als die andere. Die mit der Goldkette um den Fuß. Das ist alles.«
Er deckte das Mädchen zu. »Das ist der zweite Fall in einer Woche.Wenn es so weitergeht, werden Sie noch eine Klinik für verpfuschte Aborte in der Butte Chaumont.War die andere nicht auch daher?«
Veber nickte. »Ja, auch von der Rue Clavel. Kannten sich wahrscheinlich und waren bei derselben Hebamme. Kam sogar um dieselbe Zeit, abends, wie die andere. Gut, daß ich Sie noch im Hotel erreicht habe. Dachte schon, Sie wären nicht mehr da.«
Ravic sah ihn an. »Wenn man im Hotel wohnt, ist man meistens abends nicht da, Veber — Hotelzimmer im November sind nichts besonders Trostvolles.«
»Das kann ich mir vorstellen. Aber weshalb wohnen Sie dann eigentlich immer im Hotel?«
»Es ist bequem und unpersönlich. Man ist allein und doch nicht allein.«
»Wollen Sie das?«
»Ja.«
»Das können Sie anderswie doch auch.Wenn Sie sich ein kleines Appartement mieten, haben Sie es doch ebenso.«
»Vielleicht.« Ravic beugte sich über das Mädchen.
»Finden Sie nicht auch, Eugenie?« fragte Veber.
Die Operationsschwester blickte auf. »Herr Ravic wird das nie tun«, sagte sie kalt.
»Doktor Ravic, Eugenie«, korrigierte Veber. »Er war Chefchirurg eines großen Hospitals in Deutschland. Viel mehr als ich.«
»Hier...«, begann die Schwester und rückte ihre Brille zurecht.
Veber winkte rasch ab. »Gut! Gut! Wir wissen das alles. Hier erkennt der Staat keine ausländischen Examen an. Blödsinnig genug! Aber woher wissen Sie so genau, daß er kein Appartement nehmen wird?«
»Herr Ravic ist ein verlorener Mensch; er wird nie ein Heim gründen.«
»Was?« fragte Veber verblüfft. »Was reden Sie da?«
»Herrn Ravic ist nichts mehr heilig. Das ist der Grund.«
»Bravo«, sagte Ravic vom Bett des Mädchens her.
»Hat man so etwas schon mal gehört?« Veber starrte Eugenie an.
»Fragen Sie ihn nur selbst, Doktor Veber.«
Ravic richtete sich auf. »Sie haben ins Schwarze getroffen, Eugenie. Aber wenn einem nichts mehr heilig ist, wird einem alles auf eine menschlichere Weise wieder heilig. Man verehrt den Funken Leben, der selbst in einem Regenwurm pulst und ihn ab und zu ans Licht treibt. Das soll kein Vergleich sein.«
»Sie können mich nicht treffen. Sie haben keinen Glauben.« Eugenie strich sich energisch den weißen Kittel über der Brust zurecht. »Ich habe gottlob meinen Glauben.«
Ravic griff nach seinem Mantel. »Glaube macht leicht fanatisch. Deshalb haben alle Religionen so viel Blut gekostet.« Er grinste offen. »Toleranz ist die Tochter des Zweifels, Eugenie. Sind Sie mit all Ihrem Glauben nicht viel aggressiver gegen mich als ich verlorener Ungläubiger gegen Sie?«
Veber lachte. »Da haben Sie es, Eugenie. Antworten Sie nicht. Es wird nur noch schlimmer!«
»Meine Würde als Frau...«
»Gut!« unterbrach Veber sie. »Bleiben Sie dabei!« Das ist immer gut. Ich muß jetzt fort. Habe noch im Büro zu tun. Kommen Sie, Ravic. Guten Morgen, Eugenie.«
»Guten Morgen, Doktor Veber.«
»Guten Morgen, Schwester Eugenie«, sagte Ravic.
»Guten Morgen«, erwiderte Eugenie mühsam und erst, nachdem Veber sich nach ihr umgesehen hatte.
Vebers Büro war vollgestopft mit Möbeln aus der Empirezeit; weiß, golden und zerbrechlich. Über dem Schreibtisch hingen Fotografien seines Hauses und seines Gartens. An der Längswand stand eine breite, moderne Chaiselongue.Veber schlief darauf, wenn er nachts einmal dablieb. Die Klinik gehörte ihm.