»Was wollen Sie trinken, Ravic? Kognak oder Dubonnet?«
»Kaffee, wenn Sie noch welchen da haben.«
»Natürlich.«
Veber stellte die Maschine auf den Schreibtisch und schaltete den Kontakt ein. Dann wandte er sich an Ravic.
»Können Sie mich heute nachmittag in der ›Osiris‹ vertreten?«
»Selbstverständlich.«
»Macht es Ihnen nichts?«
»Nicht das geringste. Ich habe nichts vor.«
»Gut. Ich brauche dann nicht extra wieder hereinzufahren. Kann in meinem Garten arbeiten. Ich hätte Fauchon gefragt, aber er ist in Urlaub.«
»Unsinn«, sagte Ravic. »Ich habe es doch schon oft genug gemacht.«
»Das ist richtig. Immerhin...«
»Immerhin gibt es heutzutage nicht mehr. Nicht für mich.«
»Ja. Idiotisch genug, daß ein Mann mit Ihrem Können hier nicht offiziell arbeiten darf und sich als schwarzer Chirurg verstecken muß.«
»Aber Veber! Das ist doch schon eine alte Geschichte. Geht ja allen Ärzten so, die aus Deutschland geflüchtet sind.«
»Trotzdem! Es ist lächerlich! Sie machen Durants schwierigste Operationen, und er macht sich einen Namen damit.«
»Besser, als wenn er sie selbst machte.«
Veber lachte.
»Ich sollte nicht reden. Sie machen meine ja auch. Aber schließlich bin ich hauptsächlich Frauenarzt und kein Spezialist als Chirurg.«
Die Kaffeemaschine begann zu pfeifen. Veber stellte sie ab. Er holte Tassen aus einem Schrank und goß den Kaffee ein. »Eines verstehe ich nicht, Ravic«, sagte er. »Weshalb wohnen Sie wirklich noch immer in dieser Bude, dem ›International‹. Warum mieten Sie sich nicht eines dieser neuen Appartements in der Nähe des Bois? Ein paar Möbel können Sie überall billig kaufen. Dann wissen Sie doch wenigstens, was Sie haben.«
»Ja«, sagte Ravic. »Dann wüßte ich, was ich hätte.«
»Na also, warum tun Sie es nicht?«
Ravic trank einen Schluck Kaffee. Er war bitter und sehr stark. »Veber«, sagte er, »Sie sind ein prächtiges Beispiel für die Krankheit unserer Zeit: bequemes Denken. In einem Atemzug bedauern Sie, daß ich illegal hier arbeiten muß, und gleichzeitig fragen Sie mich, warum ich kein Appartement miete.«
»Was hat das eine mit dem andern zu tun?«
Ravic lachte ungeduldig. »Wenn ich ein Appartement nehme, muß ich bei der Polizei angemeldet werden. Dazu brauche ich einen Paß und ein Visum.«
»Richtig. Daran habe ich nicht gedacht. Und im Hotel?«
»Da auch. Aber es gibt gottlob einige Hotels in Paris, die es mit dem Anmelden nicht so genau nehmen.« Ravic goß einen Schluck Kognak in seinen Kaffee. »Eines davon ist das ›International‹. Deshalb wohne ich da. Wie die Wirtin das arrangiert, weiß ich nicht. Sie muß gute Verbindungen haben. Entweder weiß die Polizei es wirklich nicht, oder sie wird geschmiert. Auf jeden Fall wohne ich schon ziemlich lange ungestört da.«
Veber lehnte sich zurück. »Ravic«, sagte er, »ich wußte das nicht. Ich dachte nur, Sie dürften hier nicht arbeiten. Das ist ja eine verdammte Situation.«
»Es ist ein Paradies, verglichen mit einem deutschen Konzentrationslager.«
»Und die Polizei? Wenn sie doch einmal kommt?«
»Wenn sie uns erwischt, gibt es ein paar Wochen Gefängnis und Ausweisung über die Grenze. Meistens in die Schweiz. Im Wiederholungsfalle sechs Monate Gefängnis.«
»Was?«
»Sechs Monate«, sagte Ravic.
Veber starrte ihn an. »Aber das ist doch unmöglich. Das ist ja unmenschlich.«
»Das dachte ich auch, bis ich es lernte.«
»Wieso lernte? Ist Ihnen denn das schon einmal passiert?«
»Nicht einmal. Dreimal. Ebenso wie hundert andern auch. Im Anfang, als ich noch nichts davon wußte und auf die sogenannte Humanität vertraute. Bevor ich nach Spanien ging — wo ich keinen Paß brauchte — und eine zweite Lektion in angewandter Humanität erhielt. Von deutschen und italienischen Fliegern. Später, als ich dann wieder hierher zurückkam, wußte ich natürlich Bescheid.«
Veber stand auf. »Aber um Himmels willen...« Er rechnete. »Dann sind Sie ja über ein Jahr für nichts im Gefängnis gewesen.«
»Nicht so lange. Nur zwei Monate.«
»Wieso? Sie sagten doch, im Wiederholungsfalle wären es schon sechs Monate?«
Ravic lächelte. »Es gibt eben keinen Wiederholungsfall, wenn man Erfahrung hat. Man wird unter einem Namen ausgewiesen und kommt einfach unter einem andern zurück. Möglichst an einer anderen Stelle der Grenze. So vermeidet man das. Da wir keine Papiere haben, ist das nur nachzuweisen, wenn jemand uns persönlich wiedererkennt. Das ist sehr selten. Ravic ist bereits mein dritter Name. Ich habe ihn seit fast zwei Jahren. Nichts passiert seitdem. Scheint mir Glück zu bringen. Gewinne ihn täglich lieber. Meinen wirklichen habe ich schon fast vergessen.«
Veber schüttelte den Kopf. »Und das alles nur, weil Sie kein Nazi sind.«
»Natürlich. Nazis haben erstklassige Papiere. Und sämtliche Visa, die sie wollen.«
»Schöne Welt, in der wir leben! Daß die Regierung da nichts tut.«
»Die Regierung hat einige Millionen Arbeitslose, für die sie zuerst sorgen muß. Außerdem ist das nicht nur in Frankreich so. Es ist überall dasselbe.« Ravic stand auf. »Adieu, Veber. In zwei Stunden werde ich wieder nach dem Mädchen sehen. Nachts auch noch einmal.«
Veber kam ihm nach zur Tür. »Hören Sie, Ravic«, sagte er, »kommen Sie doch einmal abends zu uns heraus. Zum Essen.«
»Bestimmt.« Ravic wußte, daß er nicht gelten würde. »In der nächsten Zeit. Adieu, Veber.«
»Adieu, Ravic. Und kommen Sie wirklich.«
Ravic ging ins nächste Bistro. Er setzte sich an ein Fenster, um auf die Straße blicken zu können. Er liebte das — gedankenlos dazusitzen und die Leute draußen vorbeigehen zu sehen. Paris war die Stadt, wo man mit nichts seine Zeit am besten verbringen konnte.
Der Kellner wischte den Tisch ab und wartete. »Einen Pernod«, sagte Ravic.
»Mit Wasser, mein Herr?«
»Nein. Warten Sie!« Ravic besann sich. »Bringen Sie mir keinen Pernod.«
Es war da etwas, das er wegspülen mußte. Ein bitterer Geschmack. Dazu war das süße Anis-Zeug nicht scharf genug.
»Einen Calvados«, sagte er zu dem Kellner. »Einen doppelten Calvados.«
»Gut, mein Herr.«
Es war die Einladung Vebers. Diese Spur von Mitleid darin. Jemand einmal einen Abend in der Familie möglich machen. Franzosen luden Freunde nur selten in ihre Häuser ein; sie erledigten das lieber in Restaurants. Er war noch nie bei Veber gewesen. Es war gut gemeint, aber man vertrug das schlecht. Gegen Beleidigungen konnte man sich wehren; gegen Mitleid nicht.
Er nahm einen Schluck von dem Apfelschnaps. Wozu hatte er Veber erklärt, warum er im International wohnte? Es war nicht nötig gewesen. Veber wußte, was er wissen mußte. Er wußte, daß Ravic nicht operieren durfte, das war genug. Daß er trotzdem mit ihm arbeitete, war seine Sache. Er verdiente dabei und konnte Operationen annehmen, die er sich nicht allein zu machen getraute. Niemand wußte davon — nur er und die Operationsschwester —; und die hielt dicht. Mit Durant war es dasselbe. Nur zeremonieller. Wenn der eine Operation hatte, blieb er bei dem Patienten, bis er narkotisiert war. Erst dann kam Ravic und machte die Operation, zu der Durant zu alt und zu unfähig war. Wenn der Patient dann später erwachte, erschien Durant wieder an seinem Bett als stolzer Operateur. Ravic sah den Patienten nur zugedeckt; er kannte von ihm nur die schmale, jodbraune Stelle Körper, die offen war für die Operation. Er wußte oft nicht einmal, wen er operierte. Durant gab ihm die Diagnose, und er begann zu schneiden. Er zahlte Ravic weniger als ein Zehntel dessen, was er selbst für die Operation bekam. Ravic hatte nichts dagegen. Es war immer noch besser, als nicht zu operieren. Mit Veber arbeitete er mehr kameradschaftlich. Veber zahlte ihm ein Viertel. Das war fair.