»Und dann?«
»Dann trinken Sie das nächste.«
»Ich habe das versucht. Es nützt nichts. Es ist nicht gut, betrunken zu sein, wenn man allein ist.«
»Man muß nur genug betrunken sein. Dann geht es.«
Ravic setzte sich auf eine schmale, wacklige Chaiselongue, die an der Zimmerwand dem Bett quer gegenüberstand. Er hatte sie früher nicht gesehen. »Stand das schon hier, als Sie einzogen?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es hereinstellen lassen. Ich wollte nicht in dem Bett schlafen. Es schien sinnlos. Ein Bett und sich ausziehen und alles. Wofür? Morgens und am Tage ging es. Aber nachts...«
»Sie müssen etwas zu tun haben.« Ravic zündete sich eine Zigarette an. »Schade, daß wir Morosow nicht getroffen haben. Ich wußte nicht, daß er heute seinen freien Tag hatte. Gehen Sie morgen abend hin. Gegen neun. Irgend etwas wird er schon für Sie finden. Und wenn es Arbeit in der Küche wäre. Dann sind Sie nachts beschäftigt. Das wollen Sie doch?«
»Ja.« Joan Madou hörte auf, hin und her zu gehen. Sie trank das Glas Kognak und setzte sich auf das Bett. »Ich bin draußen herumgegangen jede Nacht. Solange man geht, ist alles besser. Erst wenn man sitzt, und die Decke fällt einem auf den Kopf...«
»Ist Ihnen nie etwas passiert unterwegs? Nichts gestohlen worden?«
»Nein. Ich sehe wohl nicht so aus, als ob viel zu stehlen wäre bei mir.« Sie hielt Ravic ihr leeres Glas hin. »Und das andere? Ich habe oft genug darauf gewartet, daß wenigstens einer zu einem spricht! Daß man nicht nur so nichts ist, nur Gehen! Daß wenigstens Augen einen ansehen, Augen und nicht nur Steine! Daß man nicht sowie ein Ausgestoßener herumrennt! Wie jemand auf einem fremden Planeten!« Sie warf das Haar zurück und nahm das Glas, daß Ravic ihr hinüberreichte. »Ich weiß nicht, weshalb ich davon spreche. Ich will es gar nicht. Vielleicht, weil ich stumm war all die Tage.Vielleicht, weil heute abend zum erstenmal...« Sie brach ab.
»Hören Sie nicht auf mich...«
»Ich trinke«, sagte Ravic. »Sagen Sie, was Sie wollen. Es ist Nacht. Niemand hört Sie. Ich höre auf mich selbst. Morgen ist alles vergessen.«
Er lehnte sich zurück. Irgendwo im Hause rauschte Wasser. Die Heizung knackte, und an das Fenster klopfte immer noch mit weichen Fingern der Regen.
»Wenn man dann zurückkommt und das Licht ausmacht — und die Dunkelheit fällt über einen wie ein Wattebausch mit Chloroform — und man macht das Licht wieder an und starrt und starrt...«
Ich muß schon betrunken sein, dachte Ravic. Früher als sonst, heute. Oder ist es das halbe Licht? Oder beides? Das ist nicht mehr dieselbe, belanglose, ausgeblichene Frau. Das ist etwas anderes. Da sind plötzlich Augen. Da ist ein Gesicht. Da sieht mich etwas an. Es müssen die Schatten sein. Es ist das sanfte Feuer hinter meiner Stirn, das sie anleuchtet. Der erste Glanz der Trunkenheit.
Er hörte nicht auf das, was Joan Madou sprach. Er kannte es und wollte es nicht mehr kennen. Allein sein — der ewige Refrain des Lebens. Es war nicht schlimmer und nicht besser als manches andere. Man sprach zuviel davon. Man war immer allein und nie. Eine Geige war plötzlich da, irgendwo auf einem Zwielicht. Ein Garten auf den Hügeln von Budapest. Der schwere Geruch der Kastanien. Der Wind. Und wie junge Eulen, geduckt auf der Schulter hockend, die Träume, mit Augen, die heller wurden in der Dämmerung. Die Nacht, die nie Nacht wurde. Die Stunde, wo alle Frauen schön waren. Die großen, braunen Schmetterlingsflügel des Abends.
Er blickte auf. »Danke«, sagte Joan Madou.
»Warum?«
»Weil Sie mich sprechen ließen, ohne zuzuhören. Es war gut. Ich brauchte das.«
Ravic nickte. Er sah, daß ihr Glas wieder leer war. »Gut«, sagte er. »Ich werde Ihnen die Flasche hierlassen.«
Er stand auf. Ein Zimmer. Eine Frau. Nichts weiter. Ein blasses Gesicht, in dem nichts mehr leuchtete. »Wollen Sie gehen?« fragte Joan Madou. Sie sah sich um, als sei jemand im Zimmer versteckt.
»Hier ist die Adresse Morosows. Sein Name, damit Sie ihn nicht vergessen. Morgen abend um neun.« Ravic schrieb es auf einen Rezeptblock. Dann riß er das Blatt ab und legte es auf den Koffer.
Joan Madou war aufgestanden. Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Mütze. Ravic sah sie an. »Sie brauchen mich nicht herunterzubringen.«
»Das will ich auch nicht. Ich will nur nicht hierbleiben. Nicht jetzt. Ich will noch irgendwo herumgehen.«
»Dann müssen Sie später doch wieder zurückkommen. Noch einmal dasselbe.Warum bleiben Sie nicht hier? Jetzt ist es schon überstanden.«
»Es ist bald Morgen. Wenn ich zurückkomme, wird es Morgen sein. Dann ist es einfacher.«
Ravic ging zum Fenster. Es regnete immer noch. Naß und grau wehten die Strähnen im Wind vor den gelben Lichthöfen der Laternen.
»Kommen Sie«, sagte er. »Wir trinken noch ein Glas, und Sie legen sich schlafen. Das ist kein Wetter für Spaziergänge.«
Er griff nach der Flasche. Joan Madou war plötzlich dicht neben ihm. »Laß mich nicht hier«, sagte sie rasch und dringend, und er fühlte ihren Atem. »Laß mich nicht allein hier, nur heute nicht; ich weiß nicht, was es ist, aber nur heute nicht! Morgen werde ich Mut haben, aber heute kann ich es nicht; ich bin mürbe und weich und falle zusammen und habe keine Kraft mehr; Sie hätten mich nicht herausnehmen sollen, nur heute nicht — ich kann jetzt nicht allein sein.«
Ravic stellte die Flasche behutsam hin und machte ihre Hände von seinem Arm los. »Kind«, sagte er — »irgendwann müssen wir uns alle daran gewöhnen.« Er musterte die Chaiselongue. »Ich kann hier schlafen. Es hat keinen Zweck, noch anderswo hinzugehen. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf. Muß morgen um neun operieren. Kann ebenso gut hier schlafen wie bei mir. Ist nicht meine erste Nachtwache. Ist das ausreichend?«
Sie nickte.
Sie stand noch immer dicht neben ihm.
»Ich muß um halb acht ’raus. Verdammt früh. Wird Sie aufwecken.«
»Das macht nichts. Ich werde aufstehen und Frühstück für Sie machen, alles...«
»Sie werden gar nichts tun«, sagte Ravic. »Ich werde frühstücken im nächsten Café wie ein vernünftiger Arbeiter; Kaffee mit Rum und Croissants. Alles andere kann ich in der Klinik machen. Wird nicht schlecht sein, Eugenie um ein Bad zu fragen. Gut, bleiben wir hier. Zwei verlorene Seelen im November. Sie nehmen das Bett. Wenn Sie wollen, kann ich solange zu dem alten Portier ’runtergehen, bis Sie fertig sind.«
»Nein«, sagte Joan Madou.
»Ich laufe nicht fort. Wir brauchen außerdem noch ein paar Sachen, Kissen, Decke und so was.«
»Ich kann klingeln.«
»Das kann ich auch.« Ravic suchte nach dem Knopf. »Besser, ein Mann macht das.«
Der Portier kam schnell. Er hatte eine zweite Kognakflasche in der Hand. »Sie überschätzen uns«, sagte Ravic. »Herzlichen Dank. Wir gehören zur Nachkriegsgeneration. Eine Decke, ein Kissen und etwas Leinen. Ich muß hier schlafen. Zu kalt und zu viel Regen draußen. Ich bin gerade zwei Tage aus dem Bett nach einer schweren Lungenentzündung. Können Sie das machen?«
»Selbstverständlich, mein Herr. Dachte mir schon so etwas.«
»Gut.« Ravic zündete sich eine Zigarette an.
»Ich werde auf den Korridor gehen. Schuhe ansehen vor den Türen. Ein alter Sport von mir. Ich laufe nicht weg«, sagte er, als er den Blick von Joan Madou sah. »Ich bin nicht Josef von Ägypten. Ich lasse meinen Mantel nicht im Stich.«
Der Portier kam mit den Sachen. Er stoppte, als er Ravic im Korridor stehen sah. Dann verklärte sich sein Gesicht. »Das findet man selten«, sagte er.
»Ich tue das auch selten. Nur an Geburtstagen und Weihnachten. Geben Sie mir die Sachen. Ich nehme sie mit hinein. Was ist denn das da?«