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Joan Madou antwortete nicht. Ravic sah, daß sie trank und sich wieder in die Kissen zurücklehnte. Da war noch etwas — aber er war zu müde, um noch darüber nachzudenken. Es war ihm auch gleichgültig. Er wollte schlafen. Morgen mußte er operieren. Dies alles ging ihn nichts mehr an. Er stellte das leere Glas auf den Boden neben die Flasche. Sonderbar, wo man manchmal so landet, dachte er.

6

Lucienne Martinet saß am Fenster, als Ravic hereinkam. »Wie ist das« fragte er, »so zum erstenmal aus dem Bett zu sein?«

Das Mädchen sah ihn an und dann hinaus in den grauen Nachmittag und wieder zurück zu ihm. »Kein gutes Wetter heute«, sagte er.

»Doch«, erwiderte sie. »Für mich schon.«

»Warum?«

»Weil ich nicht ’raus muß.«

Sie saß zusammengekauert in ihrem Sessel, einen billigen baumwollenen Kimono um die Schultern gezogen, ein schmales, unansehnliches Wesen mit schlechten Zähnen — aber für Ravic war sie im Augenblick schöner als Trojas Helena. Sie war ein Stück Leben, das er mit seinen Händen gerettet hatte. Es war nichts, um besonders stolz zu sein; eine hatte er kurz vorher verloren. Die nächste verlor er vielleicht wieder; und am Ende verlor man sie alle und sich selbst auch. Aber diese hier war für den Augenblick gerettet.

»Hüte herumschleppen ist kein Spaß bei diesem Wetter«, sagte Lucienne. »Haben Sie Hüte herumgeschleppt?« »Ja. Für Madame Lanvert. Das Geschäft an der Avenue Matignon. Bis fünf Uhr mußten wir arbeiten. Dann mußte ich die Kartons zu den Kunden bringen. Jetzt ist es halb sechs. Jetzt wäre ich unterwegs.« Sie blickte durch das Fenster. »Schade, daß es nicht mehr regnet. Gestern war es besser. Da regnete es in Strömen. Jetzt muß jemand anders da hindurch.«

Ravic setzte sich ihr gegenüber auf die Fensterbank. Merkwürdig, dachte er. Man erwartet immer, Menschen müßten hemmungslos glücklich sein, wenn sie dem Tode entronnen sind. Sie sind es fast nie. Diese hier ist es auch nicht. Ein kleines Wunder ist geschehen, und alles, was sie daran interessiert, ist, daß sie nicht durch den Regen gehen muß. »Wie sind Sie gerade hierher, in die Klinik, gekommen, Lucienne?« fragte er.

Sie sah ihn vorsichtig an. »Jemand hat es mir gesagt.«

»Wer?«

»Eine Bekannte.«

»Was für eine Bekannte?«

Das Mädchen zögerte. »Eine Bekannte, die auch hier war. Ich habe sie hierhergebracht, bis vor die Tür. Daher wußte ich es.«

»Wann war das?«

»Eine Woche bevor ich kam.«

»War es die, die während der Operation gestorben ist?«

»Ja.«

»Und trotzdem sind Sie hierhergekommen?«

»Ja«, sagte Lucienne gleichgültig. »Warum nicht?«

Ravic sagte nicht, was er sagen wollte. Er sah das kleine kalte Gesicht an, das einmal weich gewesen war und das das Leben so rasch hart gemacht hatte. »Waren Sie vorher auch bei derselben Hebamme?« fragte er.

Lucienne antwortete nicht. »Oder bei demselben Arzt? Sie können es mir ruhig sagen. Ich weiß ja nicht, wer es ist.«

»Marie war zuerst da. Eine Woche früher. Zehn Tage früher.« »Und Sie sind später hingegangen, trotzdem Sie wußten, was Marie passiert war?«

Lucienne hob die Schultern. »Was sollte ich machen? Ich mußte es riskieren. Ich wußte niemand anderes. Ein Kind... was sollte ich mit einem Kind?« Sie sah aus dem Fenster. Auf einem Balkon gegenüber stand ein Mann in Hosenträgern, der einen Schirm über sich hielt. »Wie lange muß ich noch hierbleiben, Doktor?«

»Ungefähr zwei Wochen.«

»Zwei Wochen noch?«

»Das ist nicht lange. Warum?«

»Es kostet und kostet...«

»Vielleicht können wir es ein paar Tage früher machen.« »Glauben Sie, daß ich es abzahlen kann? Ich habe nicht genug Geld. Es ist teuer, jeden Tag dreißig Frank.« »Wer hat Ihnen denn das gesagt?« »Die Schwester.« »Welche? Eugenie, natürlich...«

»Ja. Sie sagte, die Operation und die Verbände wären noch extra. Ist das sehr teuer?«

»Die Operation haben Sie schon bezahlt.«

»Die Schwester sagt, es wäre längst nicht genug gewesen.«

»Das weiß die Schwester nicht so genau, Lucienne. Da fragen Sie besser später Doktor Veber.«

»Ich möchte es gern bald wissen.«

»Warum?«

»Ich kann es mir dann besser einteilen, wie lange ich dafür arbeiten muß.« Lucienne blickte auf ihre Hände. Die Finger waren dünn und zerstochen. »Ich muß auch noch einen Monat Zimmermiete zahlen«, sagte sie. »Als ich hierherkam, war es gerade der dreizehnte. Am fünfzehnten hätte ich kündigen müssen. Jetzt muß ich noch den Monat bezahlen. Für nichts.«

»Haben Sie nicht jemand, der Ihnen hilft ?«

Lucienne blickte auf. Ihr Gesicht war plötzlich zehn Jahre älter. »Das wissen Sie doch selbst, Doktor! Der war nur ärgerlich. Er hätte nicht gewußt, daß ich so dumm sei. Sonst hätte er nie mit mir angefangen.«

Ravic nickte. So etwas war nichts Neues. »Lucienne«, sagte er, »wir können versuchen, von der Frau, die den Eingriff gemacht hat, etwas zu bekommen. Sie war schuld. Sie müssen uns nur ihren Namen geben.«

Das Mädchen richtete sich rasch auf. Es war plötzlich nichts als Abwehr. »Polizei? Nein, da fliege ich selbst ’rein.«

»Ohne Polizei. Wir drohen nur.«

Sie lachte nur. »Von der kriegen Sie damit nichts. Die ist aus Eisen. Dreihundert Frank habe ich ihr bezahlen müssen. Und dafür...« Sie strich ihren Kimono glatt. »Manche Menschen haben eben gar kein Glück«, sagte sie ohne Resignation, als spräche sie von jemand anderem als sich selbst.

»Doch«, erwiderte Ravic. »Sie hatten eine Menge Glück.«

Er sah Eugenie im Operationssaal. Sie putzte Nickelsachen blank. Es war eine ihrer Liebhabereien. Sie war so versunken in ihre Arbeit, daß sie ihn nicht kommen hörte.

»Eugenie«, sagte er.

Sie fuhr herum. »Ach Sie! Müssen Sie einen dauernd erschrecken?«

»Ich glaube nicht, daß ich soviel Persönlichkeit habe. Aber Sie sollten die Patienten nicht erschrecken mit Ihren Geschichten über Honorare und Kosten.«

Eugenie richtete sich auf, die Putzlappen in der Hand. »Die Hure hat natürlich sofort geklatscht.«

»Eugenie«, sagte Ravic. »Es gibt mehr Huren unter Frauen, die nie mit einem Mann geschlafen haben, als unter denen, die einen schwierigen Broterwerb daraus machen. Ganz zu schweigen von den Verheirateten. Außerdem hat das Mädchen nicht geklatscht. Sie haben ihm nur den Tag verdorben, das ist alles.«

»Na, wennschon! Empfindlichkeit noch bei dem Lebenswandel!«

Du wandelnder Moralkatechismus, dachte Ravic. Du ekelhafter Tugendprotz — was weißt du von der Verlassenheit dieser kleinen Hutmacherin, die tapfer zu derselben Hebamme gegangen ist, die ihre Freundin verpfuscht hat — und zum selben Hospital, in dem die andere gestorben ist, und die nichts weiter dazu sagt als: Was sollte ich machen, und: wie kann ich es bezahlen...

»Sie sollten heiraten, Eugenie«, sagte er. »Einen Witwer mit Kindern. Oder den Besitzer eines Begräbnisinstituts.«

»Herr Ravic«, sagte die Schwester mit Würde. »Wollen Sie sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn Doktor Veber beschweren.«

»Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.« Ravic sah mit Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. »Warum können fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?«

»Gottlob nein.«

»Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den Kindern der Sünde. Zum ›Osiris.‹ Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich hat.«