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»War der Arzt gestern da?«

»Nein. Vor drei Tagen. Er hat ihn... er schimpfte auf den Arzt und wollte ihn nicht mehr haben.«

»Hatten Sie keinen anderen danach?«

»Wir wußten keinen. Wir sind erst drei Wochen hier. Diesen hatte der Kellner uns besorgt... und er wollte ihn nicht mehr... er sagte... er glaubte, er könne es allein besser...«

»Was hat er gehabt?«

»Ich weiß es nicht. Der Arzt sagte Lungenentzündung... aber er glaubte es nicht... er sagte, alle Ärzte seien Betrüger... und es war auch besser gestern. Dann plötzlich...«

»Warum haben Sie ihn nicht in ein Hospital gebracht?«

»Er wollte nicht... er sagte... er... ich würde ihn betrügen, wenn er fort wäre... er... Sie kennen ihn nicht... es war nichts zu machen.«

»Liegt er noch im Hotel?«

»Ja.«

»Haben Sie dem Hotelbesitzer gemeldet, was geschehen ist?«

»Nein. Als er plötzlich still war... und alles so still... und seine Augen... da habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin fortgelaufen.«

Ravic dachte an die Nacht. Er war einen Moment verlegen. Aber es war geschehen, und es war egal, für ihn und für die Frau. Besonders für die Frau. Es war alles egal für sie gewesen in dieser Nacht und nur das eine wichtig: daß sie überstand. Das Leben bestand aus mehr als aus sentimentalen Vergleichen. Die Nacht, als Lavigne gehört hatte, daß seine Frau tot war, hatte er im Hurenhaus verbracht. Die Huren hatten ihn gerettet; mit Priestern wäre er nicht durchgekommen. Wer das verstand, verstand es. Erklärungen dafür gab es nicht. Aber es gab Verpflichtungen dadurch.

Er nahm seinen Mantel. »Kommen Sie! Ich werde mit Ihnen gehen. War es Ihr Mann?«

»Nein«, sagte die Frau.

Der Patron des Hotels Verdun war dick. Er hatte kein Haar mehr auf dem Schädel, dafür aber einen gefärbten schwarzen Schnurrbart und schwarze, dichte Augenbrauen. Er stand im Eingangsraum, hinter ihm ein Kellner, ein Zimmermädchen und eine Kassiererin ohne Busen. Es war kein Zweifel, daß er bereits alles wußte. Er tobte auch sofort los, als er die Frau hereinkommen sah. Sein Gesicht verfärbte sich, er fuchtelte mit den fetten, kleinen Händen und strudelte Wut, Entrüstung und, wie Ravic sah, Erleichterung hervor. Als er bei Polizei, Fremden,Verdacht und Gefängnis war, unterbrach Ravic ihn.

»Sind Sie Provenzale?« fragte er ruhig.

Der Wirt stoppte. »Nein. Was soll das?« fragte er verblüfft.

»Nichts«, erwiderte Ravic. »Ich wollte Sie nur unterbrechen. Das geht am besten durch eine völlig sinnlose Frage. Sie würden sonst noch eine Stunde geredet haben.«

»Herr! Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Das ist der erste vernünftige Satz, den Sie bisher gesagt haben.«

Der Wirt hatte sich gefaßt. »Wer sind Sie?« fragte er ruhiger, mit der Vorsicht, unter keinen Umständen einen einflußreichen Mann zu beleidigen.

»Der Arzt.«

Der Wirt sah keine Gefahr mehr. »Wir brauchen hier keinen Arzt mehr«, kollerte er aufs neue los. »Hier brauchen wir die Polizei.«

Er starrte Ravic und die Frau an. Er erwartete Angst, Protest und Bitten.

»Ein guter Gedanke.Warum ist sie nicht schon hier? Sie wissen doch schon seit einigen Stunden, daß der Mann tot ist.«

Der Patron erwiderte nichts. Er starrte Ravic nur weiter wütend an.

»Ich will es Ihnen sagen.« Ravic trat einen Schritt näher. »Weil Sie kein Aufsehen wollen Ihrer Gäste wegen. Es gibt eine Menge Leute, die ausziehen, wenn sie so etwas hören. Aber die Polizei wird kommen, das ist das Gesetz. Es liegt nur an Ihnen, es unauffällig zu machen. Das war auch gar nicht Ihre Sorge. Sie hatten Angst, daß man Ihnen durchgegangen sei und Ihnen alles überlassen hätte.

Das war unnötig. Außerdem hatten Sie Angst wegen Ihrer Rechnung. Sie werden bezahlt werden. Und jetzt möchte ich den Toten sehen. Ich werde dann für alles andere sorgen.«

Ravic ging an dem Wirt vorbei. »Welche Zimmernummer?« fragte er die Frau.

»Vierzehn.«

»Sie brauchen nicht mitzugehen. Ich kann das allein machen.«

»Nein. Ich möchte nicht hierbleiben.«

»Es ist einfacher, wenn Sie nichts mehr sehen.«

»Nein. Ich will nicht hierbleiben.«

»Gut. Wie Sie wollen.«

Das Zimmer war niedrig und lag nach der Straße. An der Tür drängten sich ein paar Zimmermädchen, Hausknechte und Kellner. Ravic schob sie beiseite. Der Raum hatte zwei Betten; in dem an der Wand lag der Mann. Er lag gelb und steif da wie eine Figur aus Kirchenwachs, mit krausen schwarzen Haaren, in einem roten Seidenpyjama. Die Hände waren zusammengelegt. Neben ihm auf dem Nachttisch stand eine kleine, billige, hölzerne Madonna, auf deren Gesicht Spuren von Lippenstift waren. Ravic nahm sie hoch, »made in Germany« stand auf dem Rücken eingedruckt. Ravic sah das Gesicht des Toten an; er hatte kein Lippenrouge auf den Lippen. Er sah auch nicht so aus. Die Augen waren halb offen; eines mehr als das andere — das gab dem Körper einen sehr gleichgültigen Ausdruck, als wäre er in einer ewigen Langeweile erstarrt.

Ravic beugte sich über ihn. Er musterte die Flaschen auf dem Tisch neben dem Bett und untersuchte den Körper. Keine Spur irgendeiner Gewalt. Er richtete sich auf. »Wie hieß der Arzt, der hier war?« fragte er die Frau. »Wissen Sie seinen Namen?«

»Nein.«

Er sah sie an. Sie war sehr blaß. »Setzen Sie sich einmal da herüber. Dort drüben auf den Stuhl in der Ecke. Und bleiben Sie dort sitzen. Ist der Kellner hier, der Ihnen den Arzt besorgt hat?«

Er blickte auf die Gesichter in der Tür. Auf allen lag der gleiche Ausdruck: Grauen und Gier. »François hat die Etage«, sagte die Scheuerfrau, die einen Besen wie einen Speer in der Hand hielt.

»Wo ist François?«

Ein Kellner drängte sich durch. »Wie hieß der Arzt, der hier war?« »Bonnet. Charles Bonnet.«

»Haben Sie seine Telefonnummer?«

Der Kellner kramte sie hervor. »Passy 27 43.«

»Gut.« Ravic sah, daß das Gesicht des Wirtes auftauchte. »Wir wollen jetzt einmal die Tür schließen. Oder haben Sie ein Interesse daran, daß man auch noch von der Straße hereinkommt?«

»Nein! ’raus! Alle ’raus! Was steht ihr überhaupt hier ’rum und stehlt die Zeit, die ich euch bezahle?«

Der Wirt trieb die Angestellten hinaus und schloß die Tür. Ravic nahm das Telefon ab. Er rief Veber an und sprach eine Weile mit ihm. Dann rief er die Passy-Nummer an. Bonnet war in seinem Sprechzimmer. Er bestätigte, was die Frau gesagt hatte. »Der Mann ist gestorben«, sagte Ravic. »Können Sie herüberkommen, den Totenschein ausstellen?«

»Der Mann hat mich herausgeworfen. In der beleidigendsten Weise.«

»Er wird Sie jetzt nicht mehr beleidigen.«

»Er hat mir mein Honorar nicht bezahlt. Dafür hat er mich einen habgierigen Kurpfuscher genannt.«

»Würden Sie kommen, damit man Ihnen die Rechnung bezahlt?«

»Ich kann jemand schicken.«

»Es ist besser, Sie kommen selbst. Sonst bekommen Sie Ihr Geld nie.«

»Gut«, sagte Bonnet nach einigem Zögern. »Aber ich unterschreibe nichts, ehe ich nicht bezahlt bin. Dreihundert Frank macht es.«

»Schön. Dreihundert Frank. Sie werden sie bekommen.«

Ravic hängte ab. »Tut mir leid, daß Sie das mit anhören mußten«, sagte er zu der Frau. »Es war nicht anders zu machen.Wir brauchen den Mann.« Die Frau holte bereits einige Scheine hervor. »Es macht nichts«, erwiderte sie. »So etwas ist nichts Neues für mich. Hier ist das Geld.«

»Warten Sie noch damit. Er kommt gleich. Sie können es ihm dann geben.«