»Und der Concierge?«
»Den zahlen wir selbst. Die Trinkgelder auch.«
Der Wirt zahlte mürrisch acht Frank auf den Tisch. »Sales etrangers«, murmelte er und verließ das Zimmer.
»Der Stolz mancher französischer Hoteliers besteht darin, daß sie die Fremden hassen, von denen sie leben.« Ravic bemerkte den Hausknecht, der mit einem Trinkgeldgesicht noch an der Tür stand. »Hier...«
Der Valet besah den Schein zuerst. »Merci, Monsieur«, erklärte er dann und ging.
»Jetzt kommt noch die Polizei, und dann kann er abgeholt werden«, sagte Ravic und sah die Frau an. Sie saß still in der Ecke zwischen den Koffern in der leise einfallenden Dämmerung. »Wenn man tot ist, ist man sehr wichtig... wenn man lebt, kümmert sich niemand.«
Er sah die Frau noch einmal an. »Wollen Sie nicht hinuntergehen? Es muß unten so etwas wie ein Schreibraum sein.« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann mit Ihnen gehen. Ein Freund von mir kommt her, um die Sache mit der Polizei zu erledigen. Doktor Veber. Wir können unten auf ihn warten.«
»Nein. Ich möchte hierbleiben.«
»Sie können nichts tun. Warum wollen Sie hierbleiben?«
»Ich weiß nicht. Er... wird nicht mehr lange dasein. Und ich bin oft... er war nicht glücklich mit mir. Ich war oft fort. Jetzt will ich hierbleiben.«
Sie sagte das ruhig, ohne Sentimentalität.
»Er weiß nichts mehr davon«, sagte Ravic.
»Das ist es nicht...«
»Gut. Dann werden Sie hier etwas trinken. Sie brauchen das.«
Ravic wartete nicht auf Antwort. Er klingelte. Der Kellner erschien überraschend schnell. »Bringen Sie zwei große Kognaks.«
»Hierher?« — »Ja. Wohin sonst?«
»Sehr wohl, mein Herr.«
Der Kellner brachte zwei Gläser und eine Flasche Courvoisier. Er blickte in die Ecke, wo das Bett weiß in der Dämmerung schimmerte. »Soll ich Licht machen?« fragte er.
»Nein. Aber Sie können die Flasche hierlassen.«
Der Kellner stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand mit einem zweiten Blick auf das Bett, so rasch er konnte.
Ravic nahm die Flasche und goß die Gläser voll. »Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun.« Er erwartete, daß die Frau sich weigern würde und er ihr zureden müsse. Aber sie trank das Glas ohne Zögern aus.
»Ist in den Koffern, die Ihnen nicht gehören, noch etwas Wichtiges?«
»Nein.«
»Etwas, das Sie behalten möchten. Das nützlich für Sie ist? Wollen Sie nicht nachsehen?«
»Nein. Es ist nichts drin. Ich weiß es.«
»Auch nicht in dem kleinen Koffer?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht, was er darin hatte.«
Ravic nahm den Koffer, stellte ihn auf einen Tisch am Fenster und öffnete ihn. Ein paar Flaschen; etwas Wäsche; ein paar Notizbücher; ein Kasten mit Wasserfarben; einige Pinsel, ein Buch; in einem Seitenfach der Segeltuchmappe, in Seidenpapier gewickelt, zwei Geldscheine. Er hielt sie gegen das Licht. »Hier sind hundert Dollar«, sagte er. »Nehmen Sie das. Davon können Sie eine Zeitlang leben. Den Koffer werden wir zu den Ihren stellen. Er kann ebensogut Ihnen gehört haben.«
»Danke«, sagte die Frau.
»Es ist möglich, daß Sie das alles jetzt scheußlich finden. Aber es muß getan werden. Es ist wichtig für Sie. Es gibt Ihnen ein Stück Zeit.«
»Ich finde es nicht scheußlich. Ich hätte es nur nicht selbst tun können.«
Ravic schenkte die Gläser voll. »Trinken Sie das noch.«
Sie trank das Glas langsam aus. »Besser?« fragte er.
Sie sah ihn an. »Nicht besser und nicht schlechter. Gar nichts.«
Sie saß undeutlich in der Dämmerung. Manchmal huschte der rote Schein einer Leuchtreklame über ihr Gesicht und ihre Hände. »Ich kann nichts denken«, sagte sie, »solange er da ist.«
Die beiden Ambulanzgehilfen schlugen die Decke zurück und schoben die Bahre neben das Bett. Dann hoben sie den Körper hinüber. Sie taten es rasch und geschäftsmäßig. Ravic stand dicht neben der Frau für den Fall, daß sie ohnmächtig werden würde. Bevor die Gehilfen den Körper zudeckten, bückte er sich und nahm die kleine hölzerne Madonna vom Nachttisch. »Ich glaubte, das gehört Ihnen«, sagte er. »Wollen Sie es nicht behalten?«
»Nein.«
Er gab ihr die Figur. Sie nahm sie nicht. Er öffnete den kleinen Koffer und legte sie hinein.
Die Ambulanzgehilfen deckten ein Tuch über den Leichnam. Dann hoben sie die Bahre auf. Die Tür war schmal, und der Korridor draußen war nicht breit. Sie versuchten hindurchzukommen, aber es war unmöglich. Die Bahre stieß an.
»Wir müssen ihn herunternehmen«, sagte der ältere. »Wir kommen nicht um die Ecke mit ihm.«
Er sah Ravic an. »Kommen Sie«, sagte Ravic zu der Frau. »Wir können unten warten.«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte er zu den Gehilfen. »Tun Sie, was nötig ist.«
Die beiden hoben den Körper an den Füßen und an den Schultern auf und legten ihn auf den Fußboden. Ravic wollte etwas sagen. Er sah die Frau an. Sie rührte sich nicht. Er schwieg. Die Gehilfen trugen die Bahre hinaus. Dann kamen sie in die Dämmerung zurück und holten den Körper in den trübe beleuchteten Korridor. Ravic ging ihnen nach. Sie mußten den Körper sehr hoch heben, um die Treppe zu passieren. Ihre Köpfe schwollen an und wurden rot und feucht unter dem Gewicht, und der Tote schwebte über ihnen. Ravic sah ihnen nach, bis sie unten waren. Dann ging er zurück.
Die Frau stand am Fenster und sah hinaus. Auf der Straße das Auto. Die Gehilfen schoben die Bahre hinein wie ein Bäcker Brot in einen Ofen. Dann kletterten sie auf die Sitze, der Motor heulte auf, als schrie jemand aus der Erde, und der Wagen schoß in einer scharfen Kurve um die Ecke.
Die Frau drehte sich um. »Sie hätten vorher weggehen sollen«, sagte Ravic. »Wozu mußte sie das letzte noch sehen?«
»Ich konnte nicht. Ich konnte nicht von ihm gehen. Verstehen Sie das nicht?«
»Ja. Kommen Sie. Trinken Sie noch ein Glas.«
»Nein.«
Veber hatte den Lichtschalter angedreht, als die Polizei und die Ambulanz kamen. Der Raum erschien jetzt größer, seit der Körper fort war. Größer und sonderbar tot, als wäre der Körper fortgegangen und der Tod allein geblieben.
»Wollen Sie hier im Hotel bleiben? Doch sicher nicht?«
»Nein.«
»Haben Sie Bekannte hier?«
»Nein. Niemand.«
»Wissen Sie ein Hotel, in das Sie möchten?«
»Nein.«
»In der Nähe ist ein kleines Hotel, ähnlich wie dieses. Sauber und ehrlich.Wir könnten dort etwas für Sie finden. Hotel Milan.«
»Kann ich nicht in das Hotel gehen, wo ...? In Ihr Hotel?«
»Ins International?«
»Ja. Ich... es ist... ich kenne es nun schon etwas. Es ist besser als ein ganz unbekanntes.«
»Das International ist kein gutes Hotel für Frauen«, sagte Ravic. Das fehlte noch, dachte er. Im selben Hotel. Ich bin kein Krankenwärter. Und dann — vielleicht dachte sie, er hätte bereits eine Verpflichtung. Es gab das. »Ich kann Ihnen nicht dazu raten«, sagte er schroffer, als er gewollt hatte. »Es ist immer überfüllt. Mit Refugiés. Besser, Sie gehen zum Hotel Milan. Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie es ja immer noch wechseln.«
Die Frau sah ihn an. Er hatte das Gefühl, daß sie wußte, was er dachte, und er war beschämt. Aber es war besser, einen Augenblick beschämt zu sein und dafür später Ruhe zu haben.
»Gut«, sagte die Frau. »Sie haben recht.«
Ravic ließ die Koffer hinunter in ein Taxi bringen. Das Hotel Milan war nur wenige Minuten entfernt. Er mietete ein Zimmer und ging mit der Frau hinauf. Es war ein Raum im zweiten Stock mit einer Tapete mit Rosengirlanden, einem Bett, einem Schrank und einem Tisch mit zwei Stühlen.