Der Staatsbesuch dauerte fünf Tage. Eines späten Abends kam Taretha Foxton und besuchte den Prinzen in seinen Privatgemächern. Es verwirrte ihn, dass seine Diener nicht auf das zaghafte Klopfen an der Tür reagierten, und er war noch erstaunter, das blonde Mädchen mit einem Tablett voller Köstlichkeiten zu sehen. Sie hatte den Blick gesenkt, doch ihr Kleid enthüllte so viel, dass er nicht sofort sprach,
Sie machte einen Knicks. »Milord Schwarzmoor hat mich hergeschickt, um Euch etwas anzubieten«, sagte sie. Ihre Wangen waren gerötet. Arthas war verwirrt.
»Ich… übermittle deinem Herrn meinen Dank, auch wenn ich nicht hungrig bin. Und ich frage mich, was er mit meinen Dienern gemacht hat.«
»Sie wurden eingeladen, mit den anderen Bediensteten zu essen«, erklärte Taretha. Sie sah immer noch nicht auf.
»Ich verstehe. Nun, das ist sehr freundlich vom Generalleutnant. Ich bin mir sicher, die Männer wissen es zu schätzen.«
Sie bewegte sich nicht.
»Ist noch irgendetwas, Taretha?«
Das Rot ihrer Wangen wurde intensiver und sie hob den Blick. Sie schaute gelassen und schicksalsergeben. »Milord Schwarzmoor hat mich hiermit hergeschickt, um Euch etwas anzubieten«, wiederholte sie. »Vielleicht möchtet Ihr ja etwas davon genießen.«
Plötzlich begriff er. Er verstand, gleichzeitig war er verlegen, irritiert und wütend. Nur mit Mühe beruhigte er sich – es war ja nicht der Fehler des Mädchens, eigentlich wurde sie missbraucht.
»Taretha«, sagte er. »Ich nehme das Essen mit Dank an. Ich brauche sonst nichts.«
»Euer Hoheit, ich fürchte, er besteht darauf.«
»Sagt ihm, ich hätte gesagt, es sei in Ordnung.«
»Sire, Ihr versteht nicht. Wenn ich zurückkomme…«
Er blickte auf ihre Hände, die das Tablett hielten, auf das lange Haar. Arthas trat auf sie zu, schob das Haar zur Seite und runzelte die Stirn angesichts der bräunlich-blauen Male an ihren Handgelenken und am Hals.
»Ich verstehe«, sagte er. »Dann komm herein.« Nachdem sie eingetreten war, schloss er die Tür und wandte sich ihr zu.
»Bleib, solange du willst, dann geh zurück zu ihm. In der Zwischenzeit kann ich das alles unmöglich allein essen.« Er winkte sie zu sich und setzte sich ihr gegenüber, aß etwas Gebäck und lächelte sie an.
Taretha blinzelte zurück. Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, was er gesagt hatte. Dann zeigte sich vorsichtige Erleichterung und Dankbarkeit auf ihrem Gesicht und sie goss den Wein ein. Kurze Zeit später antwortete sie schon mit mehr als nur ein paar höflichen Worten auf seine Fragen.
Sie verbrachten die nächsten Stunden mit Reden, bevor sie übereinkamen, dass es an der Zeit sei, zurückzugehen. Als sie das Tablett aufnahm, wandte sie sich ihm zu.
»Euer Hoheit – ich bin froh, dass unser nächster König solch ein Herz hat. Die Dame, die Ihr zu Eurer Königin machen werdet, wird eine glückliche Frau sein.«
Er lächelte, schloss die Tür hinter ihr und lehnte sich noch einen Augenblick dagegen.
Die Dame, die er zu seiner Königin machte. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Calia. Zum Glück für seine Schwester hatte Terenas Zweifel an Prestor bekommen – nichts, was sich beweisen ließ, doch ausreichend, um seine Meinung zu überdenken.
Arthas war fast in demselben Alter – ein Jahr älter, als Calia damals gewesen war. Er vermutete, dass er früher oder später daran denken musste, eine Königin zu finden.
Die Kälte des Winters lag in der Luft. Die letzten warmen Tage des Herbstes waren vorbei und die Bäume, einst golden und rot, wirkten nun wie Skelette, die sich gegen den Himmel abzeichneten. In ein paar Monaten würde Arthas seinen neunzehnten Geburtstag feiern und in den Orden der Silbernen Hand aufgenommen werden.
Und er war mehr als bereit dazu. Seine Ausbildung bei Muradin hatte er vor ein paar Monaten beendet und begonnen, mit Uther zu trainieren. Die Übungen waren anders, aber dann doch auch wieder ähnlich. Muradin hatte ihn Aufmerksamkeit gelehrt und den Willen, einen Kampf um jeden Preis zu gewinnen.
Die Paladine hatten eine rituellere Art, den Kampf anzugehen. Sie war stärker auf die Einstellung fokussiert, mit der man in die Schlacht zog, als auf die Mechaniken des Schwertkampfs. Arthas fand beide Formen nützlich, obwohl er sich zu fragen begann, ob er jemals das Erlernte in einem echten Kampf würde einsetzen können.
Normalerweise wäre jetzt Gebetsstunde gewesen, doch sein Vater war auf einem diplomatischen Besuch in Stromgarde und Uther begleitete ihn. Deshalb hatte Arthas für ein paar Tage die Nachmittage frei und er wollte sie nicht vergeuden, selbst wenn das Wetter nicht so gut war. Er saß locker und geübt auf Invincible, als sie über die Wiesen galoppierten. Der wenige Schnee behinderte das Tier nicht. Als Invincible seinen Kopf hochwarf und schnaubte, konnte Arthas seinen eigenen Atem und den des großen Tieres sehen.
Es begann wieder zu schneien, doch diesmal nicht in sanften, dicken Flocken, die langsam zu Boden schwebten. Stattdessen waren es kleine, aber feste Kristalle, die in die Haut stachen. Arthas runzelte die Stirn und trieb sein Pferd an. Ein wenig weiter noch, dann würde er umkehren, sagte er sich selbst. Er könnte sogar an Balnirs Hof Rast machen. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal dort gewesen war. Jorum und Jarim würden sicherlich gern das prächtige Pferd sehen, das aus dem unbeholfenen Fohlen geworden war.
Einmal gedacht, wollte der Gedanke nicht wieder verschwinden. Arthas befahl Invincible mit einem leichten Druck seiner Beine, sich umzudrehen. Das Pferd wendete gehorsam, völlig im Einklang mit den Wünschen seines Herrn. Der Schnee fiel weiter und kleine Nadeln stachen in die freiliegende Haut. Arthas zog zum Schutz den Umhang über den Kopf. Invincible schüttelte den Schädel. Die Eiskristalle zwickten ihn wie die Insekten im Sommer. Er galoppierte den Pfad hinunter, streckte den Hals vor und genoss den Ritt genauso sehr wie Arthas.
Bald schon erreichten sie den Anstieg und kurz dahinter warteten ein warmer Stall auf das Pferd und eine heiße Tasse Tee auf den Reiter, bevor sie zum Palast zurückkehren würden. Arthas’ Gesicht wurde allmählich vor Kälte beinahe taub. Seinen Fingern ging es in den feinen Lederhandschuhen nicht viel besser. Er umfasste die Zügel mit den kalten Händen, zwang seine Finger, sich zu biegen, und riss sich selbst zusammen, als Invincible sprang – nein, überlegte er, flog –, sie flogen über den Absprung wie…
Nur flogen sie gar nicht. In allerletzter Sekunde überkam Arthas ein scheußliches Gefühl, als Invincibles Hinterhufe auf dem eisigen Stein ausrutschten. Das Pferd wieherte, seine Beine versuchten panisch, sicheren Halt zu finden. Arthas’ Kehle war plötzlich trocken und er erkannte, dass er schrie, als schartiger Stein und nicht das weiche, schneebedeckte Gras herannahte und sie mit tödlicher Geschwindigkeit dagegenprallten. Er zerrte an den Zügeln, als könnte er etwas dagegen tun…
Ein Geräusch durchdrang seine Benommenheit. Er blinzelte und erwachte aus der Ohnmacht, als der markerschütternde Schmerzensschrei eines Tieres in sein Hirn drang. Zuerst konnte er sich nicht bewegen, weil sein Körper bebte. Dann versuchte er, von den schrecklichen Schreien fortzukommen. Schließlich konnte er sich aufsetzen. Schmerz durchfuhr ihn und sein eigenes Keuchen ergänzte den fürchterlichen Missklang. Wahrscheinlich hatte er sich eine oder mehrere Rippen gebrochen.
Der Schneefall wurde stärker, schwer und dicht. Er konnte kaum einen Meter weit sehen. Arthas verdrängte den Schmerz, drehte den Kopf und blickte zu…
… Invincible. Seine Blicke wurden förmlich von dessen Bewegung und der sich ausbreitenden roten Lache, die den Schnee schmolz und in der Kälte dampfte, angezogen.
»Nein«, flüsterte Arthas und kämpfte sich auf die Beine. Die Welt wurde an den Rändern schwarz und er verlor beinahe wieder das Bewusstsein. Doch mit purer Willenskraft kämpfte er dagegen an. Langsam arbeitete er sich zu dem panischen Tier vor, ging erneut gegen den Schmerz an, den heulenden Wind und den Schnee, gegen alle Gewalten, die ihn umzuwerfen drohten.