Sie musste lernen.
»Ich muss lernen«, lehnte Jaina einige Tage nach dem Essen ab, als Arthas mit zwei Pferden an den Zügeln zu ihr kam.
»Komm schon, Jaina.« Arthas lächelte. »Selbst der fleißigste Schüler muss ab und zu mal eine Pause machen. Es ist ein schöner Tag und du solltest rausgehen und ihn genießen.«
»Das tue ich«, sagte sie. Es stimmte, sie saß mit ihren Büchern im Garten, statt abgeschieden in einem der Lesesäle.
»Ein wenig körperliche Anstrengung hilft dir dabei, klarer zu denken.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, während sie unter einem Baum saß.
Sie lächelte gegen ihren Willen. »Arthas, du wirst eines Tages ein großartiger König werden«, sagte sie neckend, nahm seine Hand und ließ sich auf die Beine helfen. »Offensichtlich kann dir niemand etwas abschlagen.«
Er lachte und hielt ihr Pferd, während sie aufstieg. Sie trug heute Hosen, leichte leinene Reithosen, und konnte rittlings im Sattel sitzen statt wie sonst im Damensitz, wenn sie lange Kleider trug. Er schwang sich einen Augenblick später mühelos auf sein eigenes Pferd.
Jaina schaute sich das Tier an – es war ein simples Arbeitspferd, nicht der weiße Hengst, den das Schicksal für ihn auserkoren hatte. »Ich glaube, ich habe dir nie gesagt, wie leid es mir um Invincible getan hat«, sagte sie leise. Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand, als würde ein Schatten die Sonne verdunkeln. Dann kam das Lachen zurück, wenn auch leicht ernüchtert.
»Es geht schon, aber danke. Ich habe einen Picknickkorb dabei und der Tag wartet auf uns. Los geht’s!«
Es wurde ein Tag, an den sich Jaina für den Rest ihres Lebens erinnern würde. Einer dieser perfekten Spätsommertage, an denen das Sonnenlicht satt und golden wie Honig strahlte. Arthas legte ein hohes Tempo vor, doch Jaina war eine erfahrene Reiterin und hielt leicht Schritt mit ihm. Er führte sie weit weg von der Stadt, entlang ausgedehnter grüner Wiesen. Die Pferde hatten genauso viel Spaß wie die Reiter. Sie hatten ihre Ohren aufgerichtet, und die Nüstern bebten, als hätten sie aromatische Düfte gewittert.
Das Picknick war einfach, aber köstlich – Brot, Käse, Obst und etwas leichter Weißwein. Arthas lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und döste ein wenig, während Jaina die Schuhe auszog, ihre Füße in das dicke, weiche Gras vergrub und eine Zeit lang las. Das Buch war interessant – Eine Abhandlung über die Natur der Teleportation –, doch die träge machende Hitze des Tages, die Anstrengung und das sanfte Summen der Zikaden sorgten dafür, dass auch sie in einen Schlummer fiel.
Jaina erwachte einige Zeit später und fröstelte leicht. Die Sonne ging gerade unter. Sie setzte sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und stellte fest, dass sie Arthas nirgendwo sehen konnte. Auch sein Pferd war fort. Ihr eigener Wallach graste hingegen friedlich, die Zügel um einen Ast geschlungen.
Mit gefurchter Stirn stand sie auf. »Arthas?«
Keine Antwort. Vielleicht war er zu einer kurzen Erkundung aufgebrochen und kehrte jeden Moment zurück. Angestrengt lauschte sie auf das Geräusch von Hufgetrappel, doch da war nichts.
Es trieben sich immer noch Orcs herum. Zumindest gab es Gerüchte darüber. Und Berglöwen und Bären – weniger fremd, doch nicht minder gefährlich. Im Geiste ging Jaina all ihre Zauber durch. Sie war sicher, sich verteidigen zu können, sollte sie angegriffen werden.
Zumindest – ziemlich sicher.
Der Angriff erfolgte plötzlich und leise.
Ein Aufprall auf ihrem Hals und kalte Feuchtigkeit waren der erste und einzige Hinweis, den sie bekam. Sie keuchte und wirbelte herum. Ihr Angreifer war kaum zu erkennen. Flink wie ein Hirsch, sprang er zu einem weiteren Versteck. Er pausierte nur kurz, um dann ein neues Geschoss auf sie abzufeuern. Das erwischte sie am Mund und sie begann vor lauter Lachen zu husten. Sie berührte den Schnee und keuchte, als ein wenig davon unter ihre Bluse rutschte.
»Arthas! Du kämpfst nicht fair!«
Die Antwort waren vier Schneebälle, die in ihre Richtung rollten, und sie bückte sich, um sie aufzuheben. Er war offensichtlich in die Berge geklettert, um einen Ort zu finden, wo der Winter früh kam, und war mit Schneebällen als Beute zurückgekommen. Wo war er? Da – eine rote Tunika blitzte…
Die Schlacht tobte noch eine Weile, bis beide keine Munition mehr hatten.
»Waffenstillstand!«, rief Arthas, und als Jaina zustimmte, lachte sie so heftig, dass sie nichts mehr sagen konnte. Er sprang aus seinem Felsenversteck und rannte zu ihr. Dann drückte er sie, lachte ebenfalls und sie stellte zufrieden fest, dass auch er Schnee im Haar hatte.
»Ich habe es doch all die Jahre gewusst«, sagte er.
»W-was wusstest du?« Jaina hatte so viele Schneebälle abbekommen, dass ihr trotz der Jahreszeit kalt war. Arthas spürte, wie sie zitterte, und er legte die Arme um sie. Jaina wusste, dass sie zurückweichen sollte, eine freundliche und spontane Umarmung war eine Sache, aber in seiner Umarmung zu verweilen, eine ganz andere. Doch sie blieb, wo sie war, ließ ihren Kopf an seine Brust gelehnt, ihr Ohr gegen sein Herz gedrückt und hörte, wie es rhythmisch und schnell schlug. Sie schloss die Augen, als er mit der Hand ihr Haar streichelte und die Schneereste entfernte.
»Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass du ein Mädchen bist, mit dem man Spaß haben kann. Eins, das kein Problem damit hat, an einem warmen Sommertag schwimmen zu gehen oder…« Er trat ein wenig zurück, wischte sich die letzten Reste des schmelzenden Eises aus dem Gesicht und lächelte. »Oder einen Schneeball ins Gesicht zu bekommen. Ich habe dir doch nicht wehgetan, oder?«
Sie lächelte zurück, spürte eine plötzliche Wärme. »Nein. Nein, das hast du nicht.« Ihre Blicke trafen sich und Jaina merkte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie wollte sich von ihm lösen, doch sein Arm hielt sie fest wie ein eisernes Band. Er berührte immer noch ihr Gesicht und fuhr mit seinen starken, festen Fingern über ihre Wange.
»Jaina«, sagte er leise und sie erschauderte. Daran war aber nicht die Kälte schuld, nicht dieses Mal. Sie konnte sich einfach nicht lösen. Stattdessen hob sie den Kopf und schloss die Augen.
Der Kuss war sanft, weich und süß, der erste, den Jaina jemals erlebte. Wie von selbst legten sich ihre Arme um seinen Hals, sie presste sich gegen ihn und vertiefte die Liebkosung. Sie fühlte sich, als würde sie ertrinken, und er war der einzige Halt auf der Welt.
Das war es, was – wen – sie wollte. Diesen jungen Mann, der trotz seines Titels ihr Freund war, der ihren wissensdurstigen Charakter erkannte und verstand, der aber auch wusste, wie er das verspielte und abenteuerlustige Mädchen hervorlocken konnte, das nicht oft die Gelegenheit dazu bekam.
Er hatte gesehen, wer sie wirklich war, hatte hinter die Fassade geblickt, die sie der Welt zeigte.
»Arthas«, flüsterte sie, als sie sich an ihn schmiegte. »Arthas...«
7
Nach ein paar Monaten in Dalaran stellte Arthas zu seiner Überraschung fest, dass er tatsächlich etwas lernte, was einem König von Nutzen war. Es gab auch ausreichend Gelegenheit, den anhaltenden Sommer und die ersten kühlen Vorboten des Herbstes zu genießen. Er liebte es, auszureiten, obwohl er jedes Mal, wenn er ein Pferd sattelte, einen Stich in der Brust verspürte, weil es nicht Invincible war.
Und dann war da noch Jaina.
Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, sie zu küssen. Doch als sie in seinen Armen gelegen hatte, er in ihre Augen blickte, die vor Lachen und Gutmütigkeit leuchteten, hatte er es einfach getan. Und sie hatte den Kuss erwidert. Ihr Stundenplan war fordernder und strenger als seiner und die beiden hatten sich bei Weitem nicht so oft gesehen, wie sie es gewollt hätten. Die meisten ihrer Treffen hatten bei öffentlichen Veranstaltungen stattgefunden. Und sie beide waren wortlos übereingekommen, dass sie den Gerüchten nicht noch mehr Nahrung liefern sollten.