Arthas hatte gelächelt und mit Freude die neuen Aufgaben übernommen. Admiral Prachtmeer und Erzmagier Antonidas waren offenbar zu demselben Schluss gekommen. Immer öfter begleitete Lady Jaina Prachtmeer; die Boten von Dalaran, wenn sie in die Hauptstadt kamen.
»Komm zum Sonnenwendfest im Mittsommer«, sagte er plötzlich. Sie sah zu ihm auf, hielt in einer Hand vorsichtig ein Ei und wischte sich mit der anderen eine Locke ihres goldenen Haars aus dem Gesicht.
»Ich kann nicht. Der Sommer ist eine sehr arbeitsreiche Zeit für uns Schüler in Dalaran. Antonidas hat mir bereits gesagt, dass ich die ganze Zeit dort bleiben muss.« Bedauern lag in ihrer Stimme.
»Dann besuche ich dich im Mittsommer und du kommst zu den Schlotternächten«, sagte Arthas.
Sie schüttelte den Kopf und lachte ihm zu. Gar so ablehnend klang sie aber nicht, als sie sagte: »Du bist hartnäckig, Arthas Menethil. Ich versuche es.«
»Nein, du wirst kommen.« Er griff über den Tisch voller sorgfältig ausgeblasener und bunt bemalter Eier und kleiner Süßigkeiten und legte seine Hand über ihre.
Sie lächelte, was auch nach all der Zeit immer noch ein wenig schüchtern wirkte, und ihre Wangen röteten sich. Sie würde kommen.
Es gab mehrere kleinere Feste, die in die Schlotternächte mündeten. Eins war eher düster, ein anderes eine strahlende Feier und dieses war ein bisschen von beidem. Man hielt die Schlotternächte für die Zeit, in der die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten schmal war und die Lebenden die Verstorbenen spüren konnten. Traditionell war es das Ende der Erntezeit, bevor die Winterwinde kamen, und vor dem Palast wurde ein Strohmann aufgebaut. Bei Sonnenuntergang am Abend der Feier würde er angezündet werden. Es war ein großartiger Anblick – ein riesiger brennender Strohmann, der sich lodernd der einbrechenden Nacht entgegenstellte.
Jeder, der wollte, konnte an den Strohmann herantreten, einen Zweig in die knisternden Flammen werfen und so metaphorisch »alles verbrennen«, was er nicht in die stille, nachdenkliche Zeit der winterlichen Ruhe mitnehmen wollte.
Es war ein bäuerliches Ritual, das aus uralter Zeit stammte. Arthas vermutete, dass nur noch wenige heutzutage wirklich glaubten, einen Zweig ins Feuer zu werfen, würde ihre Probleme lösen. Noch weniger Menschen glaubten an den Kontakt mit den Toten.
Er glaubte es jedenfalls nicht. Aber es war ein beliebtes Fest und es brachte Jaina nach Lordaeron, und aus diesem Grund freute er sich darauf.
Er hatte eine kleine Überraschung für sie geplant.
Es war kurz nach Sonnenuntergang. Die Leute hatten sich schon seit dem späten Nachmittag versammelt. Einige hatten sogar Picknickkörbe mitgebracht und machten ein kleines Fest daraus, die letzten Tage des Spätherbstes in den Hügeln von Tirisfal zu genießen. Wachen waren postiert, die auf Unglücke achten sollten, die oft passierten, wenn sich viele Menschen auf engem Raum befanden. Doch Arthas rechnete nicht mit Schwierigkeiten. Als er aus dem Palast trat, in eine Tunika gewandet, mit Reiterhose und einem Umhang in satten herbstlichen Farben, kam Jubel auf. Er wartete, winkte den Zuschauern zu, nahm den Applaus entgegen, drehte sich dann um und streckte Jaina die Hand entgegen.
Sie blickte ein wenig überrascht, lächelte aber, und ihr Name wurde in dem sich verdunkelnden Himmel genauso oft gerufen wie seiner. Arthas und Jaina gingen zu dem riesigen Strohmann und blieben davor stehen. Arthas gebot mit einer Geste Ruhe.
»Meine Landsleute, an diesem Abend erinnern wir uns an all diejenigen, die nicht mehr unter uns weilen. Und wir trennen uns von all den Dingen, die uns im Weg stehen. Wir verbrennen den Strohmann als ein Symbol des endenden Jahres, so wie die Bauern die Reste der abgeernteten Felder verbrennen. Die Asche düngt den Boden und dieses Ritual düngt unsere Seelen. Es tut gut, heute Abend so viele Menschen hier zu sehen. Und es ist mir eine Freude, die Ehre, den Strohmann anzuzünden, an Lady Jaina Prachtmeer zu übergeben.«
Jainas Augen weiteten sich. Arthas wandte sich ihr zu und grinste breit.
»Sie ist die Tochter des Kriegshelden Daelin Prachtmeer und eine angehende mächtige Zauberin. Da Magier Meister des Feuers sind, denke ich, hat sie das Recht, unseren Strohmann an diesem Abend zu entzünden. Stimmt ihr mir zu?«
Die versammelte Menge brüllte ihre Zustimmung, wie Arthas es erwartet hatte. Arthas verneigte sich vor Jaina, dann beugte er sich vor und flüsterte: »Mach ein bisschen Theater – das werden sie lieben.«
Jaina nickte unmerklich, dann wandte sie sich der Menge zu und winkte. Jubel brandete auf. Sie steckte eine Haarsträhne hinter das Ohr und zeigte damit kurz ihre Nervosität, dann setzte sie eine entschlossene Miene auf. Sie schloss die Augen, hob die Hände und murmelte eine Beschwörung.
Jaina trug feuerrote Farben, mit Gelb- und Orangetönen darin. Ein kleiner Flammenball entstand in ihren Händen. Zuerst leuchtete er nur schwach, doch dann immer heller. Für Arthas wirkte sie in diesem Moment wie das Feuer selbst. Ruhig hielt sie die Flammen in den Händen, sicher und meisterhaft, und er wusste, dass die Tage, an denen sie nur wenig Kontrolle über ihre Zauber gehabt hatte, lange vorbei waren. Sie würde eine mächtige Magierin nicht erst »werden« müssen, sie war offensichtlich schon eine, wenn auch noch nicht dem Titel nach.
Und dann streckte sie beide Hände aus. Der Feuerball schoss wie eine Kugel aus einem Gewehr vor und das Publikum rang nach Luft.
Dann brach wilder Applaus aus. Arthas lächelte. Der Strohmann fing nie so schnell Feuer, wenn eine gewöhnliche Fackel an ihn gehalten wurde.
Jaina öffnete bei dem Geräusch die Augen, winkte und lächelte erfreut. Arthas beugte sich nah zu ihr herab und flüsterte: »Spektakulär, Jaina.«
»Du wolltest ja, dass ich ihnen etwas biete«, gab sie zurück und lächelte ihn an.
»Das stimmt. Aber das war schon fast zu viel des Guten. Ich fürchte, sie werden fordern, dass du ab jetzt jedes Jahr den Strohmann anzündest.«
Sie wandte sich um und sah ihn an. »Wäre das denn ein Problem?«
Das Licht des lodernden Feuers tanzte über ihr, beleuchtete ihre lebhaften Gesichtszüge und fing sich in dem goldenen Reif, der ihre Stirn schmückte. Arthas war atemlos, als er sie beobachtete. Sie hatte schon immer attraktiv auf ihn gewirkt und er hatte sie vom ersten Augenblick an gemocht, da er sie gesehen hatte. Sie war eine Freundin gewesen, eine Vertraute und eine aufregende Gefährtin. Doch nun sah er sie buchstäblich in einem völlig neuen Licht.
Er brauchte einen Moment, bis er wieder sprechen konnte. »Nein«, sagte er sanft. »Nein, das wäre absolut kein Problem.«
Sie stürzten sich ins Getümmel und tanzten an diesem Abend um das Feuer. Dabei lösten sie bei den Wachen Bestürzung aus, als sie sich mitten unters Volk mischten, Hände schüttelten und Grüße austauschten. Und dann entwischten sie ihren pflichtbewussten Aufpassern, verloren sich in der Menge und verschwanden unbeobachtet. Arthas führte sie durch einen Hintereingang zu den Privatunterkünften des Palastes. Einmal wären sie beinahe von Dienern erwischt worden, als sie eine Abkürzung durch die Küche nahmen. Sie mussten sich gegen die Wand drücken und eine Weile ganz still stehen.
Dann waren sie in Arthas’ Räumen. Er schloss die Tür, nahm sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich. Doch sie war es, die schüchterne, gelehrte Jaina, die den Kuss löste und zum Bett ging.
Sie führte ihn an der Hand, das goldgelbe Licht des immer noch brennenden Strohmanns draußen tanzte auf ihrer Haut.
Er folgte ihr wie benebelt, wie in einem Traum, als sie neben dem Bett standen, und ihre Hände waren so fest ineinander verschlungen, dass Arthas befürchtete, ihre Finger würden brechen. »Jaina«, flüsterte er.
»Arthas«, hauchte sie. Es war fast ein Wimmern und sie küsste ihn erneut. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. Er war verrückt nach ihr und fühlte sich plötzlich ihrer beraubt, als sie sich zurückzog. Ihr Atem war sanft und warm auf seinem Gesicht. »Ich… sind wir dafür bereit?«