Gebannt drehte sich Arthas um und blickte wieder nach vorn. Seine Hände hielten Steadfasts Mähne umschlossen.
Sturmwind! Er war noch nie dort gewesen, doch er hatte Geschichten darüber gehört. Es war ein mächtiger Ort, mit großen Steinmauern und wunderschönen Gebäuden. Er war stabil gebaut worden, um den wilden Winden standzuhalten, denen er seinen Namen verdankte. Unvorstellbar auch nur daran zu denken, dass er gefallen sein könnte. Wer oder was wäre stark genug, um solch eine Stadt einzunehmen? »Wie viele Leute waren dabei?«, fragte er, dabei hob er seine Stimme lauter an, als beabsichtigt, um über den Hufschlag gehört zu werden.
»Das weiß ich nicht. Es sind nicht wenige, so viel steht fest. Der Bote sagte, es wären alle, die überlebt haben.«
Die was überlebt hatten?
»Und Prinz Varian?« Er hatte sein ganzes Leben lang von Varian gehört, so wie er natürlich auch alle anderen Namen der benachbarten Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen kannte. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Uther hatte Varian erwähnt, doch nicht den Vater des Prinzen, König Liane…
»Er wird schon bald König Varian werden. König Liane ist mit Sturmwind gefallen.«
Diese Nachricht eines Einzelschicksals traf Arthas irgendwie härter als der Gedanke an Tausende Menschen, die plötzlich ohne Heimat waren. Arthas’ eigene Familie stand sich sehr nah – er, seine Schwester Calia, seine Mutter, Königin Lianne, und natürlich König Terenas. Er hatte schon erlebt, wie lieblos einige Herrscher mit ihren Familien umgingen, und wusste, dass seine Familie bemerkenswert engen Kontakt pflegte. Die eigene Stadt verloren zu haben, die eigene Lebensart und den eigenen Vater…
»Armer Varian«, sagte er und Tränen des Mitgefühls füllten seine Augen.
Uther klopfte ihm auf die Schulter. »Aye«, sagte er. »Es ist ein schwarzer Tag für den Jungen.«
Arthas schauderte mit einem Mal, was nichts mit der Kühle des Wintertages zu tun hatte. Der schöne Nachmittag mit dem blauen Himmel über der sanft gewellten, schneebedeckten Landschaft hatte sich plötzlich für ihn verdüstert.
Ein paar Tage später stand Arthas auf den Zinnen der Burg, leistete Falric, einer der Wachen, Gesellschaft und reichte ihm eine Tasse mit dampfend heißem Tee. Solche Besuche, wie Arthas sie Balnirs Familie, den Küchenmädchen der Burg, den Dienern, den Hufschmieden und praktisch jedem Untergebenen abstattete, waren nichts Ungewöhnliches. Terenas kommentierte es stets mit Stoßseufzern, doch Arthas wusste, dass niemand nur dafür bestraft wurde, dass er mit ihm sprach, und oft fragte er sich, ob sein Vater dieses Verhalten nicht insgeheim sogar befürwortete.
Falric lächelte dankbar und verbeugte sich tief vor aufrichtigem Respekt. Dabei zog er seine Handschuhe aus, damit er sich die kalten Hände wärmen konnte. Schnee drohte zu fallen, der Himmel war hellgrau. Dennoch war das Wetter klar. Arthas lehnte sich gegen die Mauer und legte sein Kinn auf die verschränkten Arme. Er blickte über die gewellten weißen Hügel von Tirisfal, in Richtung der Straße, die durch den Silberwald nach Süderstade führte. Die Straße, über die Anduin Lothar, der Magier Khadgar und Prinz Varian kommen würden.
»Schon was von ihnen zu sehen?«
»Nein, Euer Hoheit«, antwortete Falric und trank von dem heißen Tee. »Es könnte heute sein, morgen, oder übermorgen. Wenn Ihr hofft, einen Blick auf sie werfen zu können, Sire, müsst Ihr vielleicht noch ein Weilchen warten.«
Arthas lächelte ihn an, seine Augen blitzten vor Übermut. »Das ist besser als Unterricht«, sagte er.
»Nun, Sire, das wisst Ihr besser als ich«, sagte Falric diplomatisch, wobei er gegen den Drang zu lachen ankämpfte.
Während die Wache den Tee austrank, seufzte Arthas und spähte die Straße hinab, so wie er es schon ein Dutzend Mal zuvor getan hatte. Zuerst war das aufregend gewesen, doch nun begann er sich zu langweilen. Er wollte gehen und nachsehen, wie es Brightmanes Fohlen ging, und überlegte, wie schwierig es wäre, für ein paar Stunden zu entwischen, ohne dass man es bemerkte. Falric hatte recht. Lothar und Varian konnten noch ein paar Tagesreisen entfernt sein, wenn…
Arthas blinzelte. Er hob langsam sein Kinn von den Händen und verengte die Augen.
»Sie kommen!«, rief er ein paar Herzschläge später.
Falric war augenblicklich bei ihm, den Tee vergaß er. Er nickte.
»Scharfe Augen, Prinz Arthas! Marwyn!« Ein weiterer Soldat eilte herbei. »Los, berichte dem König, dass Lothar und Varian kommen. Sie sollten binnen einer Stunde hier sein.«
»Aye, Herr Hauptmann!« Der jüngere Mann salutierte.
»Ich mache das! Ich gehe!«, sagte Arthas und rannte bereits los, noch während er sprach. Marwyn zögerte und blickte zu seinem Vorgesetzten, doch Arthas wollte vor ihm im Thronsaal sein. Er rannte die Stufen hinab, rutschte über das Eis und legte den Rest des Weges auf ebenso verwegene Weise zurück. Er überquerte den Hof und geriet, als er den Thronsaal erreichte, ins Schlittern. Gerade noch rechtzeitig dachte er daran, dass er sich beruhigen musste. Heute war der Tag, an dem sich Terenas mit den Vertretern des Volkes traf, um sich ihre Sorgen anzuhören und ihnen, soweit es in seiner Macht stand, zu helfen.
Arthas warf die Kapuze seines schön bestickten roten Umhangs aus Runenstoff zurück. Er atmete tief ein, stieß die Luft durch die Lippen als feinen Nebel aus und nickte, als er die beiden Wachen erreichte, die ihn zackig grüßten und sich umwandten, um ihm die Tür zu öffnen.
Im Thronsaal war es deutlich wärmer als im Hof, auch wenn es ein großer Raum aus Marmor und Stein mit einer hohen Kuppeldecke war. Selbst an einem bewölkten Tag wie heute ließ das achteckige Fenster an der Spitze der Kuppel ausreichend Tageslicht herein. Die Fackeln in den Halterungen an der Wand brannten stetig und spendeten sowohl Wärme als auch einen goldgelben Farbton. Ein komplexes Muster aus Kreisen umgab das Siegel von Lordaeron auf dem Boden, das nun verborgen unter den versammelten Menschen lag, die allesamt respektvoll darauf warteten, vor ihren Herrscher zu treten.
Auf einem edelsteinbesetzten Thron, der auf einer Empore stand, saß König Terenas II. Sein blondes Haar war an den Schläfen von Grau durchzogen und in seinem Gesicht waren leichte Falten, die mehr vom Lächeln zeugten als von Sorgen. Sorgen, die ihre Spuren ebenso auf der Seele wie auf Gesichtern hinterließen.
Er trug ein gut geschnittenes, blauviolettes Gewand, das von glänzenden Goldstickereien durchwirkt war. Sie fingen das Licht der Fackeln ein und spiegelten sich auf der Krone. Terenas beugte sich gerade vor und unterhielt sich konzentriert mit einem vor ihm stehenden Mann – einem niederen Adeligen, an dessen Namen sich Arthas im Moment nicht erinnern konnte. Seine tiefblauen Augen waren auf den Mann gerichtet.
Wohl wissend, wessen Ankunft er verkünden würde, sah Arthas einen Moment lang einfach seinen Vater an. Wie Varian war er der Sohn eines Königs, ein Prinz von Geburt. Doch Varian hatte keinen Vater mehr und Arthas spürte, wie ihm ein Kloß im Hals steckte, als er an die Zeit dachte, wenn dieser Thron hier einst verwaist wäre, wenn Klagegesänge für Terenas angestimmt würden…
Beim Licht, lass diesen Tag noch weit, weit entfernt sein.
Vielleicht spürte Terenas den intensiven Blick seines Sohnes, denn er blickte zur Tür. Seine Augen funkelten vergnügt, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Bittsteller zu.
Arthas räusperte sich und trat vor. »Entschuldigt die Unterbrechung, Vater, sie kommen. Ich habe sie gesehen! Sie sollten binnen einer Stunde hier sein.«
Terenas schien ernüchtert. Er wusste, wer mit »sie« gemeint war. Dann nickte er. »Danke, mein Sohn.«
Die versammelten Menschen sahen einander an, die meisten wussten ebenfalls, wer »sie« waren, und die Versammlung begann sich aufzulösen, als sei die Audienz vorbei.