Die eigenen Worte schienen Arthas, während er sie sprach, wieder aufzuregen. Er stand auf und ging ungeduldig auf und ab. »Wo zum Teufel bleibt Uther?«, fragte er. »Er hatte die ganze Nacht Zeit, um zu uns aufzuschließen.«
Jaina stellte den zur Hälfte verzehrten Brei zur Seite, stand auf und kleidete sich an. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Sie versuchte die Situation zu verstehen und nüchtern darüber nachzudenken, wie man die Seuche bekämpfen konnte.
Wortlos brachen sie das Lager ab und ritten Stratholme entgegen.
Das aschgraue Licht des Sonnenaufgangs verdunkelte sich, als Wolken vor die Sonne zogen. Es begann zu regnen, kalt und beißend. Sowohl Arthas als auch Jaina schlugen die Kapuzen ihrer Umhänge hoch. Doch das half wenig, um Jaina trocken zu halten.
Als sie die Tore der großen Stadt erreichten, zitterte sie. Während sie die Pferde zügelten, hörte Jaina Geräusche hinter sich, wandte sich um und erblickte Uther und seine Männer, die den Feldweg heraufkamen, der fast nur noch aus Matsch bestand. Arthas blickte Uther mit einem zynischen Lächeln an.
»Schön, dass Ihr es auch geschafft habt, Uther«, zischte er.
Uther war ein besonnener Mann, doch jetzt verlor er die Geduld. Arthas und Jaina waren nicht die Einzigen, denen die Sache zusetzte. »Achtet auf Euren Tonfall, Junge. Ihr mögt ein Prinz sein, aber ich bin immer noch Euer Vorgesetzter als Paladin.«
»Als könnte ich das je vergessen«, gab Arthas zurück. Er stieg auf die Anhöhe, sodass er über die Mauern hinweg in die Stadt sehen konnte. Er wusste nicht, wonach er eigentlich suchte. Irgendwelche Lebenszeichen, Normalität vielleicht. Anhaltspunkte dafür, dass sie rechtzeitig hier eingetroffen waren. Irgendetwas, um ihm die Hoffnung zu geben, dass er immer noch etwas tun konnte. »Hört mir zu, Uther. Es gibt etwas über diese Seuche, das Ihr wissen solltet. Das Korn…«
Wind kam auf, während er sprach, und der Geruch, der seine Nase erreichte, war nicht unangenehm.
Arthas fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Eingeweide bekommen. Ganz eindeutig lag in der feuchten Luft der merkwürdig süßliche Geruch des mit verseuchtem Korn gebackenen Brotes.
Beim Licht, nein. Das Korn war bereits gemahlen, bereits gebacken, bereits…
Das Blut wich aus Arthas’ Gesicht. Seine Augen weiteten sich, sein Blick war starr vor plötzlicher Erkenntnis. »Wir kommen zu spät. Wir sind verdammt noch mal schon wieder zu spät! Das Korn – diese Menschen…« Er versuchte es erneut. »Diese Menschen wurden alle infiziert.«
»Arthas…«, begann Jaina mit leiser Stimme.
»Vielleicht wirken sie jetzt noch völlig gesund. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in Untote verwandeln!«
»Was?«, brüllte Uther. »Junge, seid Ihr verrückt geworden?«
»Nein«, sagte Jaina. »Er hat recht. Sie haben das Korn bereits gegessen, sie sind infiziert. Und wenn sie infiziert sind… werden sie sich verwandeln.« Wütend dachte sie nach. Es musste etwas geben, was sie tun konnten. Antonidas hatte einst gesagt, dass etwas, das magischen Ursprungs war, auch mit Magie bekämpft werden konnte. Wenn sie nur ein wenig Zeit zum Überlegen hätte. Zeit, um sich zu beruhigen, bis sie wieder logisch denken konnte. Vielleicht gab es eine Heilung…
»Die ganze Stadt muss gesäubert werden.«
Arthas’ Feststellung war simpel und brutal. Jaina blinzelte. Sicherlich hatte er es nicht so gemeint.
»Wie könnt Ihr auch nur daran denken?«, brüllte Uther und ging zu seinem ehemaligen Schüler. »Es muss einen anderen Weg geben. Das ist keine verfaulte Apfelernte, sondern eine Stadt voller menschlicher Wesen!«
»Verdammt, Uther, wir müssen es tun!« Arthas schob sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an das von Uther heran und einen schrecklichen Moment lang war Jaina überzeugt, dass sie die Waffen gegeneinander ziehen würden.
»Arthas, nein! Das können wir nicht tun!« Die Worte kamen über ihre Lippen, bevor sie sie aufhalten konnte.
Er wirbelte zu ihr herum, seine meergrünen Augen waren verhangen vor Wut, Verletzung und Verzweiflung. Sie erkannte augenblicklich, dass er wirklich glaubte, dies wäre die einzige Möglichkeit. Der einzige Weg, unverseuchtes Leben zu retten, sei, die verseuchten Menschen zu opfern – diejenigen, die nicht mehr gerettet werden konnten.
Sein Gesicht glättete sich, als sie weiterlief und ihre Worte beenden konnte, bevor er sie unterbrach.
»Hör mir zu. Wir wissen nicht, wie viele Menschen infiziert sind. Einige mögen bereits das Korn gegessen haben – andere haben vielleicht noch keine tödliche Dosis abbekommen. Wir wissen bislang noch nicht einmal, wie hoch eine tödliche Dosis ist. Wir wissen so wenig – wir können sie nicht nur aus unserer eigenen Angst heraus wie Tiere abschlachten!«
Das war das Falscheste, was sie sagen konnte, und sie sah, wie Arthas’ Miene sich verschloss. »Ich versuche, die Unschuldigen zu beschützen, Jaina. Das habe ich geschworen.«
»Sie sind unschuldig – sie sind Opfer! Sie haben nicht darum gebeten! Arthas, es sind Kinder da drin. Wir wissen nicht, ob es auch sie betrifft. Es ist noch viel zu viel unbekannt für so eine… drastische Lösung.«
»Was ist mit denen, die bereits infiziert sind?«, fragte er in die plötzliche Stille hinein. »Sie werden diese Kinder töten, Jaina. Sie werden versuchen, uns zu töten… und von hier ausströmen und weiter töten. Sie werden sowieso sterben, und wenn sie sich dann wieder erheben, tun sie Dinge, die sie zu Lebzeiten niemals getan oder je gewollt hätten. Was würdest du tun, Jaina?«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie blickte von Arthas zu Uther, dann wieder zurück. »Ich… ich weiß es nicht.«
»Doch, du weißt es.« Er hatte recht und in ihrer Verzweiflung wusste sie es auch. »Würdest du nicht auch lieber jetzt sterben als durch die Seuche? Einen sauberen Tod sterben als denkender, lebender Mensch, statt als Untoter wiederbelebt zu werden, um jeden und alles anzugreifen, was du in deinem Leben geliebt hast?«
Ihr Gesicht legte sich in Falten. »Ich… das wäre meine persönliche Entscheidung, ja. Doch wir können nicht für die anderen sprechen. Verstehst du das nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das verstehe ich nicht. Wir müssen diese Stadt reinigen, bevor die Infizierten fliehen können und die Krankheit verbreiten. Bevor einer von ihnen sich verwandelt. Das tue ich aus Barmherzigkeit und es ist die einzige Lösung, um die Seuche genau hier aufzuhalten, jetzt und für alle Zeiten. Und genau das werde ich tun.«
Tränen des Schmerzes brannten in Jainas Augen.
»Arthas – gib mir ein wenig Zeit. Nur einen Tag oder zwei. Ich kann mich zurück zu Antonidas teleportieren und wir können eine Krisensitzung einberufen. Vielleicht finden wir einen Weg, um…«
»Wir haben keinen Tag oder zwei!« Die Worte platzten förmlich aus Arthas heraus. »Jaina, die Seuche befällt die Menschen binnen weniger Stunden. Vielleicht innerhalb von Minuten. Ich… ich habe es in Herdweiler gesehen. Wir haben keine Zeit für eine Beratung oder Diskussion. Wir müssen sofort handeln. Oder es ist zu spät.« Er wandte sich an Uther. »Als Euer künftiger König befehle ich Euch, diese Stadt zu säubern!«
»Noch seid Ihr nicht mein König, Junge! Und ich würde diesen Befehl auch dann nicht ausführen, wenn Ihr es wärt!«
Die Stille knisterte vor Spannung.
Arthas… geliebter, bester Freund… bitte, tu das nicht.
»Dann muss ich das als einen Akt des Hochverrats werten.« Arthas’ Stimme war kalt. Wenn er ihr ins Gesicht geschlagen hätte, wäre Jaina nicht schockierter gewesen.
»Hochverrat?«, stieß Uther hervor. »Seid Ihr verrückt geworden, Arthas?«