Terenas hob die Hand. »Nein. Das Wetter hält sich und die Straßen sind frei. Unsere Besucher sind erst da, wenn sie tatsächlich hier eintreffen, und keinen Moment früher. Bis dahin sollten wir fortfahren.« Er lächelte reumütig. »Ich vermute, dass Zusammenkünfte wie diese danach selten sein werden. Erledigen wir so viel, wie wir können, bevor das geschieht.«
Arthas blickte seinen Vater stolz an. Deshalb liebten die Menschen Terenas so – und das war auch der Grund, warum der König normalerweise die Abenteuer seines Sohnes unter dem gemeinen Volk tolerierte. Terenas war sein Volk wirklich wichtig, und seinem Sohn hatte er dieses Gefühl anerzogen.
»Soll ich vorausreiten, um sie zu empfangen, Vater?«
Terenas sah seinen Sohn einen Augenblick lang prüfend an, dann schüttelte er den blonden Kopf. »Nein. Ich glaube, es ist das Beste, wenn du bei diesem Treffen nicht mit dabei bist.«
Arthas war wie vom Donner gerührt. Nicht daran teilnehmen? Er war schließlich neun Jahre alt! Etwas wirklich Schlimmes war einem wichtigen Verbündeten zugestoßen und ein Junge, der kaum älter war als er, hatte seinen Vater dabei verloren. Er spürte plötzliche Wut. Warum beschützte sein Vater ihn dermaßen? Warum durfte er nicht an wichtigen Besprechungen teilnehmen?
Er unterdrückte die Antwort, die ihm auf den Lippen gelegen hätte, wenn er mit Terenas allein gewesen wäre. Es wäre nicht gut, mit seinem Vater vor all diesen Leuten zu streiten. Auch wenn Arthas wusste, dass er völlig im Recht war. Er atmete tief ein, verneigte sich und ging.
Eine Stunde später hatte es sich Arthas Menethil auf einem der vielen Balkone bequem gemacht, die über dem Thronsaal aufragten. Er lächelte in sich hinein und zappelte aufgeregt. Er war immer noch klein genug, um sich unter den Sitzen zu verstecken, falls jemand den Balkon kontrollieren sollte. In ein oder zwei Jahren würde er das nicht mehr können.
Aber in ein, zwei Jahren wird Vater auch einsehen, dass ich es verdiene, an solchen Sitzungen teilzunehmen, und ich muss mich gar nicht mehr verstecken.
Der Gedanke beruhigte ihn. Er rollte seinen Umhang zusammen und benutzte ihn als Kissen, während er wartete. Der Raum wurde von den Kohlepfannen, Fackeln und den vielen Leuten beheizt. Die Wärme und das beruhigende Murmeln der Stimmen machten ihn müde und er schlief fast ein.
»Euer Majestät.«
Die Stimme, mächtig und wohlklingend, ließ Arthas aufwachen.
»Ich bin Anduin Lothar, Ritter aus Sturmwind.«
Sie waren da! Lord Anduin Lothar, der ehemalige Held von Sturmwind…
Arthas kam unter dem Sitz hervorgekrochen und erhob sich vorsichtig. Dabei versicherte er sich, dass er von dem blauen Vorhang verdeckt wurde, der den Balkon umgab, und spähte hinaus.
Lothar war mit jedem Zoll ein Krieger, dachte Arthas, als er den Mann betrachtete. Groß und kräftig gebaut, trug er die schwere Rüstung mit einer Leichtigkeit, die zeigte, dass er an ihr Gewicht gewöhnt war. Obwohl er einen dichten Schnurrbart trug, war sein Schädel fast kahl. Die wenigen verbliebenen Haare waren zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden. Neben ihm stand ein alter Mann in einem violetten Gewand.
Arthas Blick fiel auf den Jungen, der nur Prinz Varian Wrynn sein konnte. Er war groß, schlaksig, hatte aber breite Schultern, die andeuteten, dass der schmale Körper eines Tages kräftiger werden würde. Er wirkte bleich und erschöpft. Arthas zuckte, als er den Jungen ansah, der ein paar Jahre älter war als er. Er wirkte verloren, allein und verängstigt. Als der Junge angesprochen wurde, riss er sich zusammen und gab höflich die erforderlichen Antworten. Terenas war geübt darin, anderen Menschen Selbstsicherheit zu vermitteln. Schnell entließ er alle, bis auf ein paar Höflinge und Wachen, und erhob sich von seinem Thron, um die Besucher zu begrüßen.
»Bitte, behaltet Platz«, sagte er und entschied sich, nicht auf dem beeindruckenden Thron sitzen zu bleiben, wie es sein Recht gewesen wäre. Stattdessen setzte er sich auf die oberste Stufe der Empore. In einer väterlichen Geste zog er Varian zu sich herab.
Arthas lächelte.
Versteckt beobachtete der junge Prinz von Lordaeron und hörte genau zu. Die Worte, die zu ihm heraufdrangen, klangen beinahe fantastisch. Als er diesen mächtigen Krieger aus Sturmwind betrachtete – mehr noch, als er das bleiche Gesicht des zukünftigen Königs dieses ruhmreichen Reichs betrachtete –, erkannte Arthas mit einem beklemmenden Gefühl, dass dies alles keine Einbildung war. Es war tödlicher Ernst und es war erschreckend.
Die versammelten Männer redeten von Kreaturen, die sie »Orcs« nannten und die irgendwie in Azeroth erschienen waren. Groß, grün, mit Hauern als Zähnen und nach Blut dürstend, hatten sie eine »Horde« gebildet, die sich wie eine unaufhaltsame Flut ausbreitete.
»Genug, um das Land von Küste zu Küste zu überziehen«, hatte Lothar düster berichtet.
Diese Monster hatten Sturmwind angegriffen und aus den Bewohnern Flüchtlinge – oder Tote, wie Arthas begriff – gemacht. Es wurde etwas lauter, als einige Höflinge Lothar nicht glauben wollten. Lothar erregte sich, doch Terenas entschärfte die Situation und schloss die Versammlung. »Ich werde die Könige der Nachbarreiche zusammenrufen«, sagte er. »Das betrifft uns alle. Euer Majestät, ich biete Euch mein Heim und meinen Schutz, solange Ihr es benötigen solltet.«
Arthas lächelte. Varian würde hierbleiben, im Palast, zusammen mit ihm. Es wäre schön, einen anderen adeligen Jungen zu haben, mit dem er spielen konnte. Er kam gut mit Calia aus, die zwei Jahre älter war als er, aber sie war dennoch ein Mädchen. Und obwohl er Jarim gern hatte, wusste er doch, dass die Gelegenheiten, miteinander zu spielen, zwangsläufig begrenzt waren. Varian dagegen war ein geborener Prinz, so wie Arthas, und sie konnten miteinander trainieren, reiten und auf Erkundungen gehen…
»Ihr wollt, dass wir uns auf einen Krieg vorbereiten.« Die Stimme seines Vaters schnitt brutal in seine Gedanken und Arthas’ Stimmung verdüsterte sich wieder.
»Ja«, antwortete Lothar. »Auf einen Krieg, bei dem es um das Überleben unserer Art geht.«
Arthas schluckte schwer, dann verließ er den Balkon so leise, wie er gekommen war.
Wie Arthas es erwartet hatte, wurde Prinz Varian kurze Zeit später das Gästequartier gezeigt. Terenas persönlich geleitete den Jungen und legte eine Hand auf dessen Schulter. Wenn es ihn überraschte, dass sein Sohn im Gästequartier wartete, dann zeigte er es nicht.
»Arthas. Das hier ist Prinz Varian Wrynn, der zukünftige König von Sturmwind.«
Arthas verneigte sich vor dem Gleichgestellten. »Euer Hoheit«, sagte er förmlich. »Ich heiße Euch in Lordaeron willkommen. Ich wünschte nur, die Umstände wären glücklicher.«
Varian erwiderte die Verneigung höflich. »Wie ich König Terenas bereits sagte, bin ich dankbar für Eure Hilfe und Freundschaft in solch schwierigen Zeiten.«
Seine Stimme klang steif, angespannt, müde. Arthas sah den Umhang, die Tunika und die Hose, die aus Runen- und Magierstoff bestanden und wunderschön bestickt waren. Sie wirkten, als hätte Varian sie sein halbes Leben lang getragen, so schmutzig, wie sie waren. Sein Gesicht war offensichtlich gewaschen, doch es gab Dreckspuren an den Schläfen und unter den Fingernägeln.
»Ich werde ein paar Diener mit ein wenig Essen, Handtüchern, heißem Wasser und einer Wanne schicken, damit Ihr Euch erfrischen könnt, Prinz Varian.« Terenas verwendete weiterhin den Titel des Jungen. Das würde sich im Laufe der Zeit ändern, doch Arthas wusste, warum sein Vater sich so verhielt. Varian sollte wissen, dass man ihn immer noch respektierte, er immer noch königlich war, obwohl er alles außer seinem Leben verloren hatte.
Varian presste die Lippen zusammen und nickte. »Danke«, sagte er schließlich.
»Arthas, ich gebe ihn in deine Obhut.« Terenas drückte tröstend Varians Schulter. Dann ging er und schloss die Tür.
Die beiden Jungen musterten sich gegenseitig. Arthas’ Geist war völlig leer. Die Stille zog sich unangenehm lange hin. Schließlich platzte Arthas heraus: »Das mit deinem Vater tut mir leid.«