Seine unverblümten Worte ließen sie zurückweichen. »Arthas tut, was er für das Richtige hält.« Die Worte stimmten und sie wusste es. Welche Vergehen er auch begangen hatte, er war doch davon überzeugt gewesen, dass Stratholme zu vernichten, der einzig richtige Weg gewesen war.
Der Blick des Propheten wurde sanfter. »So lobenswert das sein mag«, sagte er, »wird seine Hingabe auch sein Ende sein. Es liegt nun an Euch, junge Zauberin.«
»Was? An mir?«
»Antonidas hat mich nicht angehört. Terenas und Arthas ebenfalls nicht. Beide Herrscher der Menschen und der Meister der Magie haben sich dem Begreifen verweigert. Doch ich glaube, dass Ihr das vielleicht nicht tut.«
Die Aura der Macht, die ihn umgab, war beinahe greifbar. Jaina konnte sie fast sehen, ungestüm und stark. Er trat näher an sie heran und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie blickte auf, schaute in seine Augen und war verwirrt.
»Ihr müsst Eure Leute nach Westen in das alte Land Kalimdor führen. Nur dort könnt Ihr den Schatten bekämpfen und die Welt vor den Flammen schützen.«
Als sie in diese Augen blickte, wusste Jaina, dass er recht hatte. Er beherrschte sie nicht, nichts Bezwingendes lag in diesem Blick – nur ein tiefes und überzeugtes Wissen.
»Ich…« Sie schluckte schwer und warf einen letzten Blick auf die Schrecken, die der Mann, den sie geliebt hatte und den sie immer noch liebte, verbreitet hatte, und nickte.
»Ich werde tun, was Ihr sagt.«
Ich überlasse meinen Arthas dem Schicksal, das er selbst gewählt hat. Es gibt keinen anderen Weg.
»Es wird seine Zeit dauern, sie alle zu versammeln. Bis sie mir glauben werden.«
»Ich weiß nicht, ob Ihr noch so viel Zeit habt. So viel wurde bereits vergeudet.«
Jaina hob ihr Kinn. »Ich kann nicht gehen, ohne es nicht wenigstens versucht zu haben. Wenn Ihr mich so gut kennen wollt, dann müsst Ihr auch das wissen.«
Der Rabenprophet schien sich zu entspannen, lächelte sie an und drückte ihre Schulter. »Tut, was Ihr glaubt, tun zu müssen. Aber trödelt nicht zu lange. Das Stundenglas leert sich schnell und jede Verzögerung könnte tödlich sein.«
Sie nickte, zu überwältigt, um zu sprechen. Sie musste noch mit so vielen reden – darunter Antonidas. Wenn er jemandem zuhören würde, überlegte sie, dann war sie es. Sie würde für diese Toten Partei ergreifen – sich dafür aussprechen, sich nicht nach Kalimdor zurückzuziehen, solange es hier noch lebende Menschen gab.
Die Gestalt des Propheten verwandelte sich. Er wurde wieder der große schwarze Vogel und flog mit rauschenden Flügeln davon. Die dadurch aufgewirbelte Luft stank nicht nach Verwesung, Rauch oder Tod. Sie duftete frisch und sauber… nach einem Hauch von Hoffnung.
14
Nordend hieß das Land, Dolchbucht der Ort, wo die Flotte aus Lordaeron anlegte. Das Wasser, tief und kabbelig, war von kaltem Blau-grau, der Wind wehte gnadenlos. Widerspenstige Nadelbäume überzogen die schroffen Klippen und bildeten eine natürliche Barriere, hinter der Arthas und seine Männer kampieren konnten. Ein Wasserfall stürzte die Felsen hinab, fiel in einem Schwall aus Spritzern aus großer Höhe. Dennoch war es ein angenehmerer Ort, als Arthas erwartet hatte. Zumindest für den Moment reichte er aus. Doch die Heimat eines Dämonenlords hatte er sich anders vorgestellt.
Arthas sprang aus dem Boot und landete am Strand, er blickte sich um und nahm alles auf. Der Wind, der wie ein verlorenes Kind heulte, verwirbelte sein blondes Haar und strich mit seinen kalten Fingern hindurch. Neben ihm fröstelte einer der Schiffskapitäne, die er ohne das Einverständnis seines Vaters unter seinen Befehl gestellt hatte, und schlang die Hände um sich.
»Dies ist ein vom Licht verlassenes Land, nicht wahr? Man kann kaum die Sonne sehen! Der heulende Wind dringt bis auf die Knochen… und Ihr zittert nicht mal.«
Kaum überrascht, erkannte Arthas, dass der Mann recht hatte. Er spürte die Kälte – spürte, wie sie ihn durchdrang –, aber er zitterte nicht.
»Milord, ist alles in Ordnung?«
»Hat man sich um all meine Streitkräfte gekümmert?« Arthas ignorierte die Frage des Mannes. Sie war töricht. Natürlich war bei ihm nicht alles in Ordnung. Er war gezwungen gewesen, eine ganze Stadt abzuschlachten, um Schlimmeres zu verhindern. Jaina und Uther hatten sich beide von ihm abgewandt. Und ein Dämonenlord erwartete seine Ankunft.
»Beinahe. Es sind nur noch ein paar Schiffe übrig, die…« »Sehr gut. Unsere erste Aufgabe besteht darin, ein Basislager und Verteidigungsstellungen zu errichten. Wir wissen nicht, was uns da draußen in den Schatten erwartet.« Das würde die Männer zum Schweigen bringen und ihnen etwas zu tun geben. Arthas selbst half dabei, arbeitete so hart wie die Männer, die er befehligte. Er vermisste Jainas Gewandtheit im Umgang mit Feuer, als sie die Fackeln gegen die einbrechende Dunkelheit und Kälte entzündeten. Zum Teufel, er vermisste Jaina. Aber er würde lernen, es nicht mehr zu tun. Sie hatte sich ihm verweigert, als er sie am nötigsten gebraucht hätte, und er würde solche Menschen nicht mehr länger in seinem Herzen behalten. Er musste stark sein, nicht weich, entschlossen, nicht trauernd. Es gab keinen Platz für Schwäche, wenn er Mal’Ganis besiegen wollte. Es war kein Platz für Wärme in seinem Herzen.
Die Nacht verging ohne Vorfälle. Arthas blieb wach in seinem Zelt, bis der Morgen kam, und prüfte die unvollständigen Karten, die er hatte auftreiben können. Als er schließlich einschlief, träumte er. Der Traum war gleichzeitig schön und albtraumhaft. Arthas war wieder jung und es gab noch alles, auf das er sich freuen konnte. Er ritt auf dem herrlichen Pferd, das er so liebte. Sie waren wieder eins, das perfekte Paar, und nichts konnte sie aufhalten. Doch selbst als er träumte, spürte Arthas, wie sich der Schrecken über ihn senkte, als er Invincible dazu drängte, den fatalen Sprang zu machen. Die Angst war kein bisschen kleiner, nur weil es ein Traum war. Dabei war es ihm die ganze Zeit bewusst. Wieder zog er das Schwert und stach seinem ergebenen Freund durchs Herz.
Doch dieses Mal, so erkannte er, trug er ein völlig anderes Schwert als die einfache Waffe bei sich, die er damals in diesem schrecklichen Moment benutzt hatte. Dieses Mal war das Schwert groß, ein Zweihänder, wunderschön gearbeitet. Runen leuchteten darauf. Kalter blauer Nebel stieg davon auf, frostig wie der Schnee, auf dem Invincible lag. Doch als er das Schwert zurückzog, sah Arthas nicht das getötete Tier. Stattdessen wieherte Invincible und sprang auf die Beine. Er war völlig geheilt und irgendwie stärker als zuvor. Er schien nun zu leuchten, sein Fell strahlte weiß und Arthas schreckte aus dem Schlaf auf. Er lag über den Karten, dort, wo er eingeschlafen war, mit Tränen in den Augen und einem Schluchzer der Freude auf den Lippen.
Sicherlich war das ein Omen.
Der Morgen dämmerte kalt und grau, und er war vor dem ersten Licht auf den Beinen, bereit, das Land nach Spuren des Schreckenslords zu durchsuchen. Mal’Ganis war hier, Arthas wusste es.
Doch an diesem ersten Tag fanden sie nicht mehr als ein paar Ansammlungen von Untoten. Während die Tage vergingen und immer mehr Gebiet kartografiert wurde, begann Arthas’ Mut zu sinken.
Er erkannte, dass Nordend ein großer Kontinent war, kaum erforscht. Mal’Ganis war gewiss ein Schreckenslord und die Zusammenrottungen der Untoten, die sie bislang entdeckt hatten, waren ein klarer Indikator für seine Anwesenheit. Aber nicht der Einzige. Er konnte überall sein – oder nirgendwo. Diese ganze Enthüllung, dass er nach Nordend reisen musste, konnte ein ausgeklügelter Trick sein, um Arthas aus dem Weg zu räumen, damit der Dämonenlord irgendwo ganz anders hingehen konnte und…
Nein. Der Schreckenslord war arrogant und davon überzeugt, dass er den Prinzen schließlich schlagen würde. Arthas nahm an, dass er hier war. Er musste es sein. Natürlich konnte das auch bedeuten, dass Jaina recht gehabt hatte. Dass Mal’Ganis tatsächlich hier war und eine Falle für ihn vorbereitete. Keiner dieser Gedanken war angenehm. Und je mehr Arthas darüber nachdachte, desto aufgewühlter wurde er.