Mit einem letzten gequälten Laut, der wie das Röcheln aus der Kehle eines sterbenden Mannes klang, erhob der Geist seine »Arme« und verschwand.
Arthas keuchte, der Atem kam in kleinen Wolken über seine unterkühlten Lippen. Dann wandte er sich seinem hart erkämpften Lohn zu. Alle Zweifel verschwanden, als er das Schwert erneut ansah.
»Sieh, Muradin«, keuchte er und wusste, dass seine Stimme zitterte, »unsere Rettung, Frostgram.«
»Warte, Junge.« Muradins Worte waren fast schon ein Befehl und trafen Arthas, als hätte man ihn mit kaltem Wasser übergossen. Er blinzelte, erwachte aus seiner tranceähnlichen Verzückung und wandte sich dem Zwerg zu.
»Was? Warum?«, wollte er wissen.
Muradin schaute das schwebende Schwert an, seine Augen zogen sich zusammen. »Hier stimmt etwas nicht.« Er deutete mit seinen knubbeligen Fingern auf die Runenklinge. »Das war zu leicht. Und seht es Euch an. Es liegt da im Licht, das von wer weiß wo kommt, wie eine Blume, die nur darauf wartet, gepflückt zu werden.«
»Zu leicht?« Arthas warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Es hat Euch doch genug Zeit gekostet, es zu finden. Und wir mussten diese Wesen bekämpfen, um es zu erhalten.«
»Pah«, schnaubte Muradin. »Alles, was ich über Artefakte weiß, sagt mir, dass hier etwas so faul ist wie die Docks der Beutebucht.« Er seufzte, seine Augenbrauen waren immer noch zusammengezogen. »Wartet… da ist eine Inschrift auf der Empore. Mal sehen, ob ich sie entziffern kann. Sie könnte uns mehr verraten.«
Beide traten vor, Muradin, um sich hinzuknien und die Inschrift zu studieren, Arthas, um dem verlockenden Schwert näher zu sein. Arthas warf der Inschrift, die Muradin so faszinierte, nur einen neugierigen Blick zu. Sie war in keiner Sprache verfasst, die er kannte. Doch der Zwerg schien sie lesen zu können, was man daran merkte, wie seine Blicke über die Buchstaben glitten.
Arthas hob eine Hand und strich über das Eis, das ihn von Frostgram trennte. Es war glatt, tödlich kalt. Ganz eindeutig Eis, doch es war auch irgendwie ungewöhnlich. Es fühlte sich nicht wie einfaches gefrorenes Wasser an. Arthas wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. Etwas sehr Mächtiges, beinahe schon Überirdisches ruhte darin.
Frostgram…
»Aye, ich wusste doch, dass ich es lesen kann. Es ist in Kalimag geschrieben – der Sprache der Elementare«, fuhr Muradin fort. Er runzelte die Stirn, als er weiterlas. »Es ist… eine Warnung.«
»Warnung? Warnung wovor?« Vielleicht würde das Schwert beschädigt, wenn man das Eis zerschmetterte, überlegte Arthas. Der unnatürliche Eisblock selbst schien aus einem anderen größeren Eisstück herausgebrochen worden zu sein.
Muradin übersetzte langsam. Arthas hörte nur mit halbem Ohr zu, seine Augen ruhten auf dem Schwert.
»Wer dieses Schwert aufnimmt, wird ewige Macht erhalten. So wie das Schwert das Fleisch verletzt, muss die Macht den Geist verletzen.« Der Zwerg kam ruckartig auf die Beine, war jetzt aufgewühlter, als Arthas ihn je erlebt hatte. »Oh, ich hätte es wissen müssen. Die Klinge ist verflucht! Verschwinden wir von hier!«
Arthas’ Herz wurde von einem merkwürdigen Schauder erfasst. Verschwinden? Das Schwert in seinem gefrorenen Gefängnis zurücklassen? Unberührt, unbenutzt, obwohl sich ihm eine derartige Macht darbot? Ewige Macht, hatte die Inschrift versprochen, verbunden mit der Drohung, den Geist zu verletzen.
»Mein Geist ist bereits verletzt«, sagte Arthas. Und so war es auch. Er war von dem sinnlosen Tod seines geliebten Pferdes verletzt worden, davon, miterleben zu müssen, wie die Toten sich erhoben. Verletzt vom Verrat derjenigen, die er liebte – ja, er hatte Jaina Prachtmeer geliebt, er konnte es sich jetzt eingestehen. Jetzt, in diesem Moment, in dem seine Seele sich nackt dem Urteil des Schwertes unterwarf. Er war verletzt worden, als er gezwungen gewesen war, Hunderte Menschen abzuschlachten, verletzt worden von der Notwendigkeit, seine Männer zu belügen und all diejenigen, die ihn in Frage stellten oder ihm nicht gehorchten, zum Schweigen zu bringen. Er war von so vielem verletzt worden. Was auch immer diese Macht mit ihm anstellte, es konnte nicht schlimmer sein.
Nur so ließ sich das fürchterlich Falsche wieder in etwas Gutes verwandeln.
»Arthas, Junge«, sagte Muradin, seine raue Stimme klang flehend, »Ihr habt bereits genug gelitten, bürdet Euch nicht auch noch diesen Fluch auf.«
»Einen Fluch?« Arthas lachte bitter. »Ich würde gern jeden Fluch auf mich nehmen, um meine Heimat zu retten.«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Muradin erschauderte. »Arthas, Ihr wisst, dass ich ein zäher Kerl bin, der sich nichts so schnell einbildet. Doch ich sage Euch, das ist eine üble Sache, Junge. Lasst das Schwert hier, wo es vergessen ruht. Mal’Ganis ist hier, mag sein. Dann lasst ihn sich seinen dämonischen Hintern in der Wildnis abfrieren. Vergesst diese Sache und führt Eure Männer heim.«
Das Bild der Männer erfüllte plötzlich Arthas’ Innerstes. Er sah sie vor seinem geistigen Auge und neben ihnen erblickte er die Hunderte Menschen, die bereits dieser schrecklichen Seuche zum Opfer gefallen waren. Gefallen, nur um wieder aufzustehen, als stumpfe, verfaulende Fleischklumpen.
Was war mit denen? Was war mit ihren Seelen, ihren Leiden?
Ein anderes Bild erschien – ein großes Stück Eis, dasselbe Eis, das Frostgram umgab. Er sah nun, wo der Eisklumpen hergekommen war. Er war Teil von etwas Größerem, Stärkerem gewesen – und er war mit der Runenklinge darin irgendwie zu ihm geschickt worden, um die Toten zu rächen.
Eine Stimme flüsterte in seinem Geist: Die Toten verlangen Rache.
Was war eine Handvoll lebender Männer verglichen mit den Qualen derjenigen, die auf so eine schreckliche Art gefallen waren?
»Verdammt seien die Männer!«
Die Worte schienen tief aus seinem Inneren zu kommen. »Ich habe den Toten gegenüber eine Verpflichtung. Nichts soll mich von meiner Rache abhalten, alter Freund.« Jetzt löste er den Blick lange genug von dem Schwert, um Muradins besorgten Blick zu sehen, und sein Gesicht wurde ein wenig sanfter. »Nicht einmal Ihr.«
»Arthas – ich habe Euch das Kämpfen beigebracht. Ich wollte Euch helfen, ein guter Krieger zu werden und ein guter König. Doch um ein guter Krieger zu sein, muss man sich entscheiden, welche Schlachten man kämpft – und mit welcher Waffe.« Er deutete mit dem knubbeligen Finger auf Frostgram. »Und das ist eine Waffe, die Ihr nicht in Eurem Arsenal haben solltet.«
Arthas presste beide Hände gegen das Eis, in dem das Schwert steckte, und beugte sein Gesicht bis wenige Zentimeter über die glatte Oberfläche. Er hörte Muradin, als würde er aus weiter Entfernung zu ihm sprechen.
»Hört mir zu, Junge. Wir werden einen anderen Weg finden, Euer Volk zu retten. Wir sollten jetzt gehen, nach Hause zurückkehren und diesen Weg suchen.«
Muradin hatte unrecht. Er verstand es einfach nicht. Arthas musste es tun. Wenn er jetzt wegging, hatte er versagt, schon wieder, und das durfte er nicht zulassen. Man war ihm bislang stets in die Quere gekommen.
Doch nicht dieses Mal.
Er glaubte an das Licht, weil er es sehen konnte, es selbst benutzt hatte. Und er glaubte an Geister und wandelnde Untote, weil er gegen sie gekämpft hatte. Doch bis zu diesem Moment hatte er nicht an eine unsichtbare Macht geglaubt, die Orten und Dingen innewohnte. Nun raste sein Herz vor Aufregung und mit einem Verlangen, einer Sehnsucht, die von seiner Seele zu zehren schien, kamen die Worte wie von selbst über seine Lippen.
»Jetzt kann ich die Geister dieses Ortes anrufen«, sagte er, sein Atem gefror in der kalten, stillen Luft. Knapp außerhalb seiner Reichweite hing Frostgram und erwartete ihn. »Was immer du auch sein magst, gut oder böse – oder beides. Ich kann dich spüren. Ich weiß, dass du zuhörst. Ich bin bereit. Ich verstehe. Und ich sage dir jetzt: Ich werde alles geben, jeden Preis bezahlen, wenn du mir nur dabei hilfst, mein Volk zu retten.«
Einen schrecklichen Moment lang geschah nichts. Sein Atem gefror, verschwand, gefror erneut, und kalter Schweiß lief über Arthas’ Stirn. Er hatte alles geboten, was er hatte – war er abgelehnt worden? Hatte er erneut versagt?