Varian fuhr zusammen, wandte sich ab und ging zu den großen Fenstern, vor denen sich der Lordamere-See ausbreitete. Es hatte zu schneien begonnen, die Flocken sanken langsam zu Boden und bedeckten das Land mit einem weißen Tuch. Das war schade – an einem klaren Tag konnte man bis zur Festung Fenris blicken.
»Danke.«
»Ich bin sicher, er hat mutig gekämpft und sein Bestes gegeben.«
»Er wurde ermordet.« Varians Stimme war dumpf und emotionslos. Arthas wirbelte herum und blickte ihn schockiert an. Seine Gesichtszüge, die Arthas nun im Profil sah und die durch das kalte Licht des Wintertages erhellt wurden, waren unnatürlich ruhig. Nur seine braunen Augen, blutunterlaufen und voller Schmerz, schienen lebendig. »Eine vertraute Freundin arrangierte ein Treffen mit ihr allein. Dann tötete sie ihn. Stach ihm mitten ins Herz.«
Arthas blickte ihn an. Der Tod in einer glorreichen Schlacht war schon schwer genug zu ertragen, aber dies…
Impulsiv legte er eine Hand auf den Arm des Prinzen. »Ich habe gestern gesehen, wie ein Fohlen geboren wurde«, sagte er. Es klang verrückt, aber es war das Erste, was ihm einfiel, und er sprach mit vollem Ernst. »Wenn das Wetter besser wird, zeige ich es dir. Es ist wirklich eine tolle Sache.«
Varian drehte sich zu ihm um und blickte ihn einen Moment lang an. Gefühle verwandelten sein Gesicht – Beleidigung, Unglaube, Dankbarkeit, Sehnsucht, Verstehen.
Plötzlich füllten sich seine braunen Augen mit Tränen und Varian sah weg. Er verschränkte die Arme und schlang sie um sich, seine Schultern, zitterte. Er schluchzte und tat sein Bestes, um die Gefühlsaufwallung zu verbergen. Sie brach sich trotzdem Bahn. Es waren schroffe, abgehackte Klagelaute, die um einen Vater trauerten, ein Königreich, eine Lebensart, deren Verlust er vielleicht bis zu diesem Moment noch nicht richtig realisiert hatte. Arthas drückte seine Arme und stellte fest, dass sie sich unter seinen Händen hart wie Stein anfühlten.
»Ich hasse den Winter«, schluchzte Varian. Diese drei Worte zeigten die Tiefe seines Schmerzes – ein scheinbarer Gedankensprung, der Arthas beschämte. Unfähig solch rohen Schmerz zu erleben, machtlos, etwas dagegen zu tun, ließ er die Hände sinken, wandte sich ab und blickte aus dem Fenster.
Draußen fiel derweil unentwegt der Schnee.
2
Arthas war frustriert.
Nachdem die Kunde von den Orcs eingetroffen war, hatte er geglaubt, endlich mit der richtigen Ausbildung beginnen zu können, und zwar gemeinsam mit seinem neuen besten Freund, Varian. Stattdessen geschah genau das Gegenteil. Der Krieg gegen die Horde führte dazu, dass jeder, der ein Schwert halten konnte, zur Armee ging – bis hin zum obersten Hufschmied. Varian bemitleidete sein jüngeres Gegenüber und bemühte sich eine Zeitlang, ihn zu trösten. Doch schließlich seufzte er und blickte Arthas mitfühlend an.
»Arthas, ich will ja nicht gemein sein, aber…«
»Es ist schrecklich.«
Varian verzog das Gesicht. Die beiden waren in der Waffenhalle, wo sie mit Helmen, ledernen Brustpanzern und Holzschwertern übten. Varian ging zur Ablage, legte das Übungsschwert darauf, setzte den Helm ab und sagte: »Es hat mich ziemlich überrascht, dass du so kräftig und schnell bist.«
Arthas schmollte. Er kannte Varian gut genug, um zu wissen, dass der Prinz die Lage nur entschärfen wollte. Mürrisch folgte er ihm, verstaute sein eigenes Schwert und löste die Riemen der Rüstung.
»In Sturmwind beginnen wir mit der Ausbildung, wenn wir noch recht jung sind. Als ich in deinem Alter war, hatte ich meine eigene Rüstung, die extra für mich angefertigt worden war.«
»Mach’s nur noch schlimmer«, knurrte Arthas.
»Tut mir leid.« Varian lächelte ihn an und Arthas lächelte zögernd zurück. Obwohl ihr erstes Treffen von Trauer und Verlegenheit bestimmt gewesen war, hatte Arthas entdeckt, dass Varian über einen starken Willen und ein frohes Wesen verfügte. »Ich frage mich, warum dein Vater nicht dasselbe mit dir gemacht hat.«
Arthas wusste es. »Er versucht mich zu beschützen.«
Varian hängte seinen ledernen Brustpanzer auf. »Mein Vater wollte mich auch beschützen. Hat aber nicht geklappt. Ihm sind die Realitäten des Lebens dazwischengekommen.« Er blickte Arthas an. »Ich habe zwar zu kämpfen gelernt. Aber wie man es anderen beibringt, weiß ich nicht. Ich könnte dich verletzen.«
Arthas errötete. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Varian ihn verletzen könnte.
Varian schien einzusehen, dass er die Sache so nur verschlimmerte, und schlug Arthas auf die Schulter. »Weißt du was? Wenn der Krieg vorbei ist und der passende Ausbilder wieder abgestellt werden kann, werde ich mit König Terenas reden. Und ich bin mir sicher, in kürzester Zeit wirst du mich ungespitzt in den Boden rammen.«
Der Krieg ging schließlich zu Ende und die Allianz gewann ihn. Der Anführer der Horde, der einst mächtige Orgrim Schicksalshammer, wurde in Ketten zur Hauptstadt gebracht. Sowohl Arthas als auch Varian waren beeindruckt gewesen, den mächtigen Orc durch Lordaeron ziehen zu sehen. Turalyon, der junge Paladin, der Schicksalshammer besiegt hatte, nachdem der Orc zuvor den edlen Anduin Lothar erschlagen hatte, zeigte Gnade und verschonte die Bestie. Terenas, der im Grunde seines Herzens ein guter Mensch war, setzte diese Haltung fort, indem er Angriffe auf die Kreatur verbot. Spott und Buhrufe waren erlaubt – schließlich war es gut für die Moral, dass der Orc, der sie so lange terrorisiert hatte, jetzt machtlos Hohn ertragen musste. Doch Orgrim Schicksalshammer würde nichts geschehen, solange er sich in Terenas’ Obhut befand.
Es war das einzige Mal gewesen, dass Arthas erlebt hatte, wie Varians Gesicht sich vor Hass verzog. Doch das war nur allzu verständlich, wie er fand. Denn wenn die Orcs Terenas und Uther getötet hätten, hätte auch er diese hässlichen grünen Gestalten angespuckt.
»Er sollte hingerichtet werden«, knurrte Varian und seine Augen blitzten wütend, als sie von der Brustwehr aus beobachteten, wie Schicksalshammer auf den Palast zumarschierte. »Und ich wünschte, ich dürfte das Todesurteil vollstrecken.«
»Er kommt in die Unterstadt«, sagte Arthas. Die alten königlichen Krypten, Gewölbe, Kanäle und die verwinkelten Gassen tief unter dem Palast wären irgendwie an diesen Beinamen gekommen, als handele es sich dabei um einen ganz anderen Ort. Die Unterstadt, düster, feucht und schmutzig, war nur für Gefangene und Tote bestimmt. Doch die Ärmsten der Armen schienen immer einen Weg dort hinein zu finden. Wenn man obdachlos war, lebte es sich hier immer noch besser, als wenn man den Elementen schutzlos ausgesetzt war. Und wer etwas brauchte, was nicht so ganz legal war, das wusste selbst Arthas, würde es dort bekommen. Ab und zu gingen die Wachen hinunter und versuchten in einem verzweifelten und letztlich nutzlosen Bemühen, aufzuräumen.
»Niemand kommt aus der Unterstadt heraus«, versicherte Arthas seinem Freund. »Er wird als Gefangener sterben.«
»Das ist zu gut für ihn«, sagte Varian. »Turalyon hätte ihn töten sollen, als er die Möglichkeit dazu hatte.«
Varians Worte sollten sich als prophetisch erweisen. Der große Führer der Orcs war nur scheinbar vom Spott und Hass gedemütigt. Wie sich herausstellen sollte, war er alles andere als gebrochen. Eingelullt von seiner Mutlosigkeit, so hatte Arthas es gehört, waren die Wachen lax im Umgang mit ihm geworden. Niemand wusste genau, wie Orgrim Schicksalshammer seine Flucht genau bewerkstelligt hatte, weil niemand überlebt hatte, um davon berichten zu können. Er hatte jeder Wache, auf die er getroffen war, das Genick gebrochen. Doch es gab eine Spur aus Leichen, darunter Wächter, Arme und Kriminelle – Schicksalshammer machte keinen Unterschied zwischen ihnen –, die von der sperrangelweit offenen Zellentür durch die Unterstadt seinen Fluchtweg nachzeichnete und direkt in die stinkenden Kanäle führte. Schicksalshammer war kurz danach wieder eingefangen und diesmal in ein Internierungslager gesteckt worden. Als er auch von dort wieder fliehen konnte und sich seine Fährte diesmal verlor, wartete die ganze Allianz mit angehaltenem Atem auf einen von ihm organisierten Angriff.